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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
Rahab mit Hab und Gut und allen Ihrigen aus Jericho ent¬
lassen wurde, weil sie die Kundschafter Iosua's beherbergt hatte.

Den homerischen Gedichten fühlen wir an, wie tief im
Volksleben der Hellenen die Gastfreundschaft wurzelt, in wie
festen Formen sie sich schon damals ausgestaltet hatte. Bei
keiner Tugend ist das Verhältniß der Gegenseitigkeit so sinnig
aufgefaßt und die Uebung derselben so zu einer ethischen Kunst
ausgebildet. Denn es handelt sich nicht bloß um äußere
Dienstleistungen. Der Wirth soll dem Gaste mit zarter Rück¬
sicht begegnen und sich hüten, ihm durch Neugier lästig zu
fallen oder durch zudringliche Nöthigung; denn die selbst¬
süchtige Gastfreundschaft einer Kirke ist das Zerrbild der wahren.
Der Gast schuldet Bescheidenheit, Zurückhaltung, dankbare An¬
erkennung. Beiden aber soll aus flüchtiger Begegnung ein
dauerndes Verhältniß entstehen. Dazu dienen die Erinnerungs¬
gaben, die Gastgeschenke und Wahrzeichen, an denen sich Kin¬
der und Kindeskinder als Solche erkennen, welche durch Zeus
Xenios zu einer Wahlverwandtschaft verbunden sind.

Durch die Gastfreundschaft erweitert sich das Haus und
tritt in mannigfaltige Beziehungen ein, welche eine heilsame
Bewegung veranlassen und wichtige Verbindungen eröffnen.
Als Miltiades, des Kypselos Sohn, die thrakischen Sendboten
von der Straße in sein Haus rief und ihnen Herberge anbot,
war die Folge, daß die Gäste ihm das erbliche Fürstenthum
in ihrer Heimath antrugen und Athen am Hellespont Macht
gewann.

Denn nicht nur in den patriarchalischen Zeiten homerischen
Angedenkens ist Griechenland ein Sitz der Gastfreundschaft
gewesen; sondern es ist dieser Tugend treu geblieben. Durch
sie unterschied sich hellenischer Boden vom unwirthlichen Sky¬
thenstrande; sie hat mit gemüthlichen Beziehungen die helleni¬
sche Welt durchdrungen, sie hat das weit Getrennte verknüpft
und sich in der Zeit höchster Spannung als ein starkes Band
des Friedens und nationaler Verbrüderung bewährt.

Als Sybaris zerstört wurde, legten alle Bürger von Milet
Trauer an und schoren sich das Haupt; die Handelsverbin¬

Die Gaſtfreundſchaft.
Rahab mit Hab und Gut und allen Ihrigen aus Jericho ent¬
laſſen wurde, weil ſie die Kundſchafter Iosua's beherbergt hatte.

Den homeriſchen Gedichten fühlen wir an, wie tief im
Volksleben der Hellenen die Gaſtfreundſchaft wurzelt, in wie
feſten Formen ſie ſich ſchon damals ausgeſtaltet hatte. Bei
keiner Tugend iſt das Verhältniß der Gegenſeitigkeit ſo ſinnig
aufgefaßt und die Uebung derſelben ſo zu einer ethiſchen Kunſt
ausgebildet. Denn es handelt ſich nicht bloß um äußere
Dienſtleiſtungen. Der Wirth ſoll dem Gaſte mit zarter Rück¬
ſicht begegnen und ſich hüten, ihm durch Neugier läſtig zu
fallen oder durch zudringliche Nöthigung; denn die ſelbſt¬
ſüchtige Gaſtfreundſchaft einer Kirke iſt das Zerrbild der wahren.
Der Gaſt ſchuldet Beſcheidenheit, Zurückhaltung, dankbare An¬
erkennung. Beiden aber ſoll aus flüchtiger Begegnung ein
dauerndes Verhältniß entſtehen. Dazu dienen die Erinnerungs¬
gaben, die Gaſtgeſchenke und Wahrzeichen, an denen ſich Kin¬
der und Kindeskinder als Solche erkennen, welche durch Zeus
Xenios zu einer Wahlverwandtſchaft verbunden ſind.

Durch die Gaſtfreundſchaft erweitert ſich das Haus und
tritt in mannigfaltige Beziehungen ein, welche eine heilſame
Bewegung veranlaſſen und wichtige Verbindungen eröffnen.
Als Miltiades, des Kypſelos Sohn, die thrakiſchen Sendboten
von der Straße in ſein Haus rief und ihnen Herberge anbot,
war die Folge, daß die Gäſte ihm das erbliche Fürſtenthum
in ihrer Heimath antrugen und Athen am Helleſpont Macht
gewann.

Denn nicht nur in den patriarchaliſchen Zeiten homeriſchen
Angedenkens iſt Griechenland ein Sitz der Gaſtfreundſchaft
geweſen; ſondern es iſt dieſer Tugend treu geblieben. Durch
ſie unterſchied ſich helleniſcher Boden vom unwirthlichen Sky¬
thenſtrande; ſie hat mit gemüthlichen Beziehungen die helleni¬
ſche Welt durchdrungen, ſie hat das weit Getrennte verknüpft
und ſich in der Zeit höchſter Spannung als ein ſtarkes Band
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[206/0222] Die Gaſtfreundſchaft. Rahab mit Hab und Gut und allen Ihrigen aus Jericho ent¬ laſſen wurde, weil ſie die Kundſchafter Iosua's beherbergt hatte. Den homeriſchen Gedichten fühlen wir an, wie tief im Volksleben der Hellenen die Gaſtfreundſchaft wurzelt, in wie feſten Formen ſie ſich ſchon damals ausgeſtaltet hatte. Bei keiner Tugend iſt das Verhältniß der Gegenſeitigkeit ſo ſinnig aufgefaßt und die Uebung derſelben ſo zu einer ethiſchen Kunſt ausgebildet. Denn es handelt ſich nicht bloß um äußere Dienſtleiſtungen. Der Wirth ſoll dem Gaſte mit zarter Rück¬ ſicht begegnen und ſich hüten, ihm durch Neugier läſtig zu fallen oder durch zudringliche Nöthigung; denn die ſelbſt¬ ſüchtige Gaſtfreundſchaft einer Kirke iſt das Zerrbild der wahren. Der Gaſt ſchuldet Beſcheidenheit, Zurückhaltung, dankbare An¬ erkennung. Beiden aber ſoll aus flüchtiger Begegnung ein dauerndes Verhältniß entſtehen. Dazu dienen die Erinnerungs¬ gaben, die Gaſtgeſchenke und Wahrzeichen, an denen ſich Kin¬ der und Kindeskinder als Solche erkennen, welche durch Zeus Xenios zu einer Wahlverwandtſchaft verbunden ſind. Durch die Gaſtfreundſchaft erweitert ſich das Haus und tritt in mannigfaltige Beziehungen ein, welche eine heilſame Bewegung veranlaſſen und wichtige Verbindungen eröffnen. Als Miltiades, des Kypſelos Sohn, die thrakiſchen Sendboten von der Straße in ſein Haus rief und ihnen Herberge anbot, war die Folge, daß die Gäſte ihm das erbliche Fürſtenthum in ihrer Heimath antrugen und Athen am Helleſpont Macht gewann. Denn nicht nur in den patriarchaliſchen Zeiten homeriſchen Angedenkens iſt Griechenland ein Sitz der Gaſtfreundſchaft geweſen; ſondern es iſt dieſer Tugend treu geblieben. Durch ſie unterſchied ſich helleniſcher Boden vom unwirthlichen Sky¬ thenſtrande; ſie hat mit gemüthlichen Beziehungen die helleni¬ ſche Welt durchdrungen, ſie hat das weit Getrennte verknüpft und ſich in der Zeit höchſter Spannung als ein ſtarkes Band des Friedens und nationaler Verbrüderung bewährt. Als Sybaris zerſtört wurde, legten alle Bürger von Milet Trauer an und ſchoren ſich das Haupt; die Handelsverbin¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/222>, abgerufen am 24.11.2024.