welche unter günstigen Verhältnissen bei allen Völkern zur Entfaltung gekommen sind, die Erbgüter oder Erbtugenden des Menschengeschlechts, und wenn ich mich umschaue auf diesem Gebiete, so finde ich keinen Gegenstand, dessen Be¬ trachtung uns die Macht des sittlichen Lebens in gleicher Klarheit vor Augen stellte, der zugleich mit dem Berufe einer deutschen Universität wie mit der Geschichte unseres Staats enger zusammenhinge, also auch der festlichen Veranlassung, welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend der Gastfreundschaft.
Man rechnet sie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und Ländern mehr angehören, als den unsrigen, aber das hat doch, so Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns die Tugenden überhaupt nicht als besondere Kräfte oder Lei¬ stungen angesehen und geehrt werden, sondern mehr als Früchte eines Baums, einer gemeinsamen Wurzel des göttlichen Lebens im Menschen, entwachsen. Wenn also auch uns ein "herberget gerne" zugerufen wird, so ist das doch weniger eine einzelne Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerksam macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die Wurzel nicht gesund sein könne. Diese Gesammtanschauung einer ethischen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar sein; bei ihnen sind die verschiedenen Tugenden freie Gestalten, jede für sich in festen Umrissen ausgeprägt.
Von diesem allgemeinen Unterschiede abgesehen zeigt sich nun gerade in Betreff der Gastfreundschaft eine merkwürdige Uebereinstimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬ ham und Lot einkehrt, so ziehen auch die Götter der Hellenen als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an die Thüren der Menschenkinder; wo sie aber Aufnahme fin¬ den und dienstfertige Aufmerksamkeit, lassen sie reichen Haus¬ segen zurück.
So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren Hütte sie vor den hereinbrechenden Fluthen schützen, wie die Zwerge des Grindelwalds die Häuser ihrer Gastfreunde; so
Die Gaſtfreundſchaft.
welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zur Entfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬ trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung, welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend der Gaſtfreundſchaft.
Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und Ländern mehr angehören, als den unſrigen, aber das hat doch, ſo Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns die Tugenden überhaupt nicht als beſondere Kräfte oder Lei¬ ſtungen angeſehen und geehrt werden, ſondern mehr als Früchte eines Baums, einer gemeinſamen Wurzel des göttlichen Lebens im Menſchen, entwachſen. Wenn alſo auch uns ein »herberget gerne« zugerufen wird, ſo iſt das doch weniger eine einzelne Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerkſam macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die Wurzel nicht geſund ſein könne. Dieſe Geſammtanſchauung einer ethiſchen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar ſein; bei ihnen ſind die verſchiedenen Tugenden freie Geſtalten, jede für ſich in feſten Umriſſen ausgeprägt.
Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich nun gerade in Betreff der Gaſtfreundſchaft eine merkwürdige Uebereinſtimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬ ham und Lot einkehrt, ſo ziehen auch die Götter der Hellenen als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an die Thüren der Menſchenkinder; wo ſie aber Aufnahme fin¬ den und dienſtfertige Aufmerkſamkeit, laſſen ſie reichen Haus¬ ſegen zurück.
So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren Hütte ſie vor den hereinbrechenden Fluthen ſchützen, wie die Zwerge des Grindelwalds die Häuſer ihrer Gaſtfreunde; ſo
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Die Gaſtfreundſchaft.
welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zur
Entfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden
des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf
dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬
trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher
Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer
deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats
enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung,
welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend
der Gaſtfreundſchaft.
Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und
Ländern mehr angehören, als den unſrigen, aber das hat
doch, ſo Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns
die Tugenden überhaupt nicht als beſondere Kräfte oder Lei¬
ſtungen angeſehen und geehrt werden, ſondern mehr als Früchte
eines Baums, einer gemeinſamen Wurzel des göttlichen Lebens
im Menſchen, entwachſen. Wenn alſo auch uns ein »herberget
gerne« zugerufen wird, ſo iſt das doch weniger eine einzelne
Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerkſam
macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die
Wurzel nicht geſund ſein könne. Dieſe Geſammtanſchauung
einer ethiſchen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar ſein;
bei ihnen ſind die verſchiedenen Tugenden freie Geſtalten, jede
für ſich in feſten Umriſſen ausgeprägt.
Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich
nun gerade in Betreff der Gaſtfreundſchaft eine merkwürdige
Uebereinſtimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher
gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬
ham und Lot einkehrt, ſo ziehen auch die Götter der Hellenen
als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an
die Thüren der Menſchenkinder; wo ſie aber Aufnahme fin¬
den und dienſtfertige Aufmerkſamkeit, laſſen ſie reichen Haus¬
ſegen zurück.
So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren
Hütte ſie vor den hereinbrechenden Fluthen ſchützen, wie die
Zwerge des Grindelwalds die Häuſer ihrer Gaſtfreunde; ſo
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/220>, abgerufen am 22.07.2024.
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