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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
sich Geistesverwandte als Freundespaare zu denken, daß sie
auch solche Männer als Freunde auffaßten, welche durch Zeit
und Raum weit von einander getrennt waren, wie Lykurg
und Homer, König Numa und Pythagoras.

Die Freundschaft blieb die ganze Geschichte hindurch der
Prüfstein hellenischer Tugend; wer hellenisch gesinnt sein wollte,
mußte sich durch sie bewähren. Das fühlte auch der große
Macedonier, als er die Mission antrat, die hellenische Tugend
über die Gränzen von Hellas hinaus zu einem Gemeinbesitze
der gebildeten Menschheit zu machen, und erneuerte selbst in
seinem Bunde mit Hephästion das Vorbild der Freundschafts¬
bündnisse heroischer Zeit. "Auch dieser ist Alexander," sagte
er von ihm, als bei einer Begrüßung der Freund mit dem
Könige verwechselt wurde. Er blieb ein guter König und
ein edler Hellene, so lange er es verstand, Freund zu sein.
Auch das griechische Volk büßte seine Ehre ein, als die Freund¬
schaft aufhörte, eine sittliche Macht zu sein. Die Philia wurde
zur Polyphilia, zur Vielfreundschaft, d. h. sie entartete in ein
ehrsüchtiges Streben nach Anhang und Parteimacht.

Wenn die Freundschaft so mit dem tiefsten Grunde des
sittlichen Bewußtseins verwachsen war, so mußte auch die
Philosophie der Griechen, so wie sie die einseitige Naturbe¬
trachtung aufgab und eine ethische wurde, ihr eine besondere
Aufmerksamkeit zuwenden. Die Ethik ging ja, wie die Physik,
von gegebenen Thatsachen aus, von den Formen, Kräften und
Gesetzen des sittlichen Lebens, wie es im Volke sich darstellte,
und da mußte die Idee der Freundschaft einer der fruchtbarsten
Gegenstände ethischer Untersuchungen werden. Denn wenn
diese sich vorzugsweise um die Begriffe der Tugend, der
Pflicht und der geistigen Güter bewegten, so trafen hier alle
drei Gesichtspunkte zusammen, und hier konnte am Besten von
allgemein Verstandenem und Zugegebenem zu wichtigen Folge¬
rungen fortgeschritten werden.

So erklärt sich die Thatsache, daß von Sokrates an die
Philosophie sich so eingehend mit der Freundschaft beschäftigt
und sie zum besonderen Gegenstande der sorgfältigsten Unter¬

Die Freundſchaft im Alterthume.
ſich Geiſtesverwandte als Freundespaare zu denken, daß ſie
auch ſolche Männer als Freunde auffaßten, welche durch Zeit
und Raum weit von einander getrennt waren, wie Lykurg
und Homer, König Numa und Pythagoras.

Die Freundſchaft blieb die ganze Geſchichte hindurch der
Prüfſtein helleniſcher Tugend; wer helleniſch geſinnt ſein wollte,
mußte ſich durch ſie bewähren. Das fühlte auch der große
Macedonier, als er die Miſſion antrat, die helleniſche Tugend
über die Gränzen von Hellas hinaus zu einem Gemeinbeſitze
der gebildeten Menſchheit zu machen, und erneuerte ſelbſt in
ſeinem Bunde mit Hephäſtion das Vorbild der Freundſchafts¬
bündniſſe heroiſcher Zeit. »Auch dieſer iſt Alexander,« ſagte
er von ihm, als bei einer Begrüßung der Freund mit dem
Könige verwechſelt wurde. Er blieb ein guter König und
ein edler Hellene, ſo lange er es verſtand, Freund zu ſein.
Auch das griechiſche Volk büßte ſeine Ehre ein, als die Freund¬
ſchaft aufhörte, eine ſittliche Macht zu ſein. Die Philia wurde
zur Polyphilia, zur Vielfreundſchaft, d. h. ſie entartete in ein
ehrſüchtiges Streben nach Anhang und Parteimacht.

Wenn die Freundſchaft ſo mit dem tiefſten Grunde des
ſittlichen Bewußtſeins verwachſen war, ſo mußte auch die
Philoſophie der Griechen, ſo wie ſie die einſeitige Naturbe¬
trachtung aufgab und eine ethiſche wurde, ihr eine beſondere
Aufmerkſamkeit zuwenden. Die Ethik ging ja, wie die Phyſik,
von gegebenen Thatſachen aus, von den Formen, Kräften und
Geſetzen des ſittlichen Lebens, wie es im Volke ſich darſtellte,
und da mußte die Idee der Freundſchaft einer der fruchtbarſten
Gegenſtände ethiſcher Unterſuchungen werden. Denn wenn
dieſe ſich vorzugsweiſe um die Begriffe der Tugend, der
Pflicht und der geiſtigen Güter bewegten, ſo trafen hier alle
drei Geſichtspunkte zuſammen, und hier konnte am Beſten von
allgemein Verſtandenem und Zugegebenem zu wichtigen Folge¬
rungen fortgeſchritten werden.

So erklärt ſich die Thatſache, daß von Sokrates an die
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[190/0206] Die Freundſchaft im Alterthume. ſich Geiſtesverwandte als Freundespaare zu denken, daß ſie auch ſolche Männer als Freunde auffaßten, welche durch Zeit und Raum weit von einander getrennt waren, wie Lykurg und Homer, König Numa und Pythagoras. Die Freundſchaft blieb die ganze Geſchichte hindurch der Prüfſtein helleniſcher Tugend; wer helleniſch geſinnt ſein wollte, mußte ſich durch ſie bewähren. Das fühlte auch der große Macedonier, als er die Miſſion antrat, die helleniſche Tugend über die Gränzen von Hellas hinaus zu einem Gemeinbeſitze der gebildeten Menſchheit zu machen, und erneuerte ſelbſt in ſeinem Bunde mit Hephäſtion das Vorbild der Freundſchafts¬ bündniſſe heroiſcher Zeit. »Auch dieſer iſt Alexander,« ſagte er von ihm, als bei einer Begrüßung der Freund mit dem Könige verwechſelt wurde. Er blieb ein guter König und ein edler Hellene, ſo lange er es verſtand, Freund zu ſein. Auch das griechiſche Volk büßte ſeine Ehre ein, als die Freund¬ ſchaft aufhörte, eine ſittliche Macht zu ſein. Die Philia wurde zur Polyphilia, zur Vielfreundſchaft, d. h. ſie entartete in ein ehrſüchtiges Streben nach Anhang und Parteimacht. Wenn die Freundſchaft ſo mit dem tiefſten Grunde des ſittlichen Bewußtſeins verwachſen war, ſo mußte auch die Philoſophie der Griechen, ſo wie ſie die einſeitige Naturbe¬ trachtung aufgab und eine ethiſche wurde, ihr eine beſondere Aufmerkſamkeit zuwenden. Die Ethik ging ja, wie die Phyſik, von gegebenen Thatſachen aus, von den Formen, Kräften und Geſetzen des ſittlichen Lebens, wie es im Volke ſich darſtellte, und da mußte die Idee der Freundſchaft einer der fruchtbarſten Gegenſtände ethiſcher Unterſuchungen werden. Denn wenn dieſe ſich vorzugsweiſe um die Begriffe der Tugend, der Pflicht und der geiſtigen Güter bewegten, ſo trafen hier alle drei Geſichtspunkte zuſammen, und hier konnte am Beſten von allgemein Verſtandenem und Zugegebenem zu wichtigen Folge¬ rungen fortgeſchritten werden. So erklärt ſich die Thatſache, daß von Sokrates an die Philoſophie ſich ſo eingehend mit der Freundſchaft beſchäftigt und ſie zum beſonderen Gegenſtande der ſorgfältigſten Unter¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/206>, abgerufen am 24.11.2024.