Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Freundschaft im Alterthume
bekenne, ihnen huldige und von jeder Lästerung und Entweihung
sich fern halte; also sie nimmt auch ihrerseits den Trieb der
Selbstsucht in heilsame Zucht und übt die Tugend der So¬
phrosyne in einer höheren Sphäre, als der einer bloß bürger¬
lichen Gesetzlichkeit. Die Götter verlangen eine höhere Rein¬
heit. Apollo straft den, der sich erfrecht, mit den Wünschen
unreiner Selbstsucht seinem Orakel zu nahen.

Trotzdem war die griechische Religion auch auf ihrer
höchsten Stufe, der des delphischen Apollodienstes, außer Stande,
den Menschen frei zu machen vom Joche der Selbstsucht.
Wohl demüthigte sich der religiöse Mensch in Opfer und
Gebet vor den unsichtbaren Gewalten, wohl fühlte er bei allen
großen und kleinen Angelegenheiten die Unentbehrlichkeit gött¬
licher Hülfe; auch näherte ihn die Kunst den Göttern und
zeigte ihm im Antlitze des olympischen Zeus die Fülle seiner
Macht und Gnade, aber die Triebe des menschlichen Herzens
wurden nicht umgewandelt; dazu erschöpfte sich das Wesen der
Religion zu sehr in äußerlichem Thun. Es muß aber ein
Innerliches sein, was den Menschen wahrhaft frei macht, ein
neues Lebensgesetz, welches das alte verdrängt, das ihn lehrt
sich selbst zu finden, indem er sich verliert, und durch volle
Hingabe erst recht sein eigen zu werden. Nur durch die Liebe
ist eine rechte Ueberwindung der Selbstsucht möglich, und da
von einer Liebe der Gottheit zum Menschengeschlechte die alte
Welt kein Bewußtsein hatte, so konnte auch ihre Frömmigkeit
keine Gegenliebe sein und ihre Religion keine persönliche Hin¬
gebung veranlassen.

Um so wichtiger waren nun die menschlichen Beziehungen,
die Stätten gegenseitiger Menschenliebe. Und wie hoch stand
den Alten der Herd des Hauses, der heilige Mittelpunkt der
Familie, wie lebten sie auch mit den abgeschiedenen Hausge¬
nossen in treuer Gemeinschaft fort, und wie ängstlich sorgte
jedes Gemeinwesen dafür, daß kein Herdfeuer erlösche! Wie
für die Altäre des Landes, kämpften die Bürger für den
Herd ihrer Wohnhäuser, durch welchen sie sich mit dem Vater¬
lande unauflöslich verbunden und der vollen Bürgerehren

Die Freundſchaft im Alterthume
bekenne, ihnen huldige und von jeder Läſterung und Entweihung
ſich fern halte; alſo ſie nimmt auch ihrerſeits den Trieb der
Selbſtſucht in heilſame Zucht und übt die Tugend der So¬
phroſyne in einer höheren Sphäre, als der einer bloß bürger¬
lichen Geſetzlichkeit. Die Götter verlangen eine höhere Rein¬
heit. Apollo ſtraft den, der ſich erfrecht, mit den Wünſchen
unreiner Selbſtſucht ſeinem Orakel zu nahen.

Trotzdem war die griechiſche Religion auch auf ihrer
höchſten Stufe, der des delphiſchen Apollodienſtes, außer Stande,
den Menſchen frei zu machen vom Joche der Selbſtſucht.
Wohl demüthigte ſich der religiöſe Menſch in Opfer und
Gebet vor den unſichtbaren Gewalten, wohl fühlte er bei allen
großen und kleinen Angelegenheiten die Unentbehrlichkeit gött¬
licher Hülfe; auch näherte ihn die Kunſt den Göttern und
zeigte ihm im Antlitze des olympiſchen Zeus die Fülle ſeiner
Macht und Gnade, aber die Triebe des menſchlichen Herzens
wurden nicht umgewandelt; dazu erſchöpfte ſich das Weſen der
Religion zu ſehr in äußerlichem Thun. Es muß aber ein
Innerliches ſein, was den Menſchen wahrhaft frei macht, ein
neues Lebensgeſetz, welches das alte verdrängt, das ihn lehrt
ſich ſelbſt zu finden, indem er ſich verliert, und durch volle
Hingabe erſt recht ſein eigen zu werden. Nur durch die Liebe
iſt eine rechte Ueberwindung der Selbſtſucht möglich, und da
von einer Liebe der Gottheit zum Menſchengeſchlechte die alte
Welt kein Bewußtſein hatte, ſo konnte auch ihre Frömmigkeit
keine Gegenliebe ſein und ihre Religion keine perſönliche Hin¬
gebung veranlaſſen.

Um ſo wichtiger waren nun die menſchlichen Beziehungen,
die Stätten gegenſeitiger Menſchenliebe. Und wie hoch ſtand
den Alten der Herd des Hauſes, der heilige Mittelpunkt der
Familie, wie lebten ſie auch mit den abgeſchiedenen Hausge¬
noſſen in treuer Gemeinſchaft fort, und wie ängſtlich ſorgte
jedes Gemeinweſen dafür, daß kein Herdfeuer erlöſche! Wie
für die Altäre des Landes, kämpften die Bürger für den
Herd ihrer Wohnhäuſer, durch welchen ſie ſich mit dem Vater¬
lande unauflöslich verbunden und der vollen Bürgerehren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0201" n="185"/><fw place="top" type="header">Die Freund&#x017F;chaft im Alterthume<lb/></fw> bekenne, ihnen huldige und von jeder Lä&#x017F;terung und Entweihung<lb/>
&#x017F;ich fern halte; al&#x017F;o &#x017F;ie nimmt auch ihrer&#x017F;eits den Trieb der<lb/>
Selb&#x017F;t&#x017F;ucht in heil&#x017F;ame Zucht und übt die Tugend der So¬<lb/>
phro&#x017F;yne in einer höheren Sphäre, als der einer bloß bürger¬<lb/>
lichen Ge&#x017F;etzlichkeit. Die Götter verlangen eine höhere Rein¬<lb/>
heit. Apollo &#x017F;traft den, der &#x017F;ich erfrecht, mit den Wün&#x017F;chen<lb/>
unreiner Selb&#x017F;t&#x017F;ucht &#x017F;einem Orakel zu nahen.</p><lb/>
        <p>Trotzdem war die griechi&#x017F;che Religion auch auf ihrer<lb/>
höch&#x017F;ten Stufe, der des delphi&#x017F;chen Apollodien&#x017F;tes, außer Stande,<lb/>
den Men&#x017F;chen frei zu machen vom Joche der Selb&#x017F;t&#x017F;ucht.<lb/>
Wohl demüthigte &#x017F;ich der religiö&#x017F;e Men&#x017F;ch in Opfer und<lb/>
Gebet vor den un&#x017F;ichtbaren Gewalten, wohl fühlte er bei allen<lb/>
großen und kleinen Angelegenheiten die Unentbehrlichkeit gött¬<lb/>
licher Hülfe; auch näherte ihn die Kun&#x017F;t den Göttern und<lb/>
zeigte ihm im Antlitze des olympi&#x017F;chen Zeus die Fülle &#x017F;einer<lb/>
Macht und Gnade, aber die Triebe des men&#x017F;chlichen Herzens<lb/>
wurden nicht umgewandelt; dazu er&#x017F;chöpfte &#x017F;ich das We&#x017F;en der<lb/>
Religion zu &#x017F;ehr in äußerlichem Thun. Es muß aber ein<lb/>
Innerliches &#x017F;ein, was den Men&#x017F;chen wahrhaft frei macht, ein<lb/>
neues Lebensge&#x017F;etz, welches das alte verdrängt, das ihn lehrt<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu finden, indem er &#x017F;ich verliert, und durch volle<lb/>
Hingabe er&#x017F;t recht &#x017F;ein eigen zu werden. Nur durch die Liebe<lb/>
i&#x017F;t eine rechte Ueberwindung der Selb&#x017F;t&#x017F;ucht möglich, und da<lb/>
von einer Liebe der Gottheit zum Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechte die alte<lb/>
Welt kein Bewußt&#x017F;ein hatte, &#x017F;o konnte auch ihre Frömmigkeit<lb/>
keine Gegenliebe &#x017F;ein und ihre Religion keine per&#x017F;önliche Hin¬<lb/>
gebung veranla&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Um &#x017F;o wichtiger waren nun die men&#x017F;chlichen Beziehungen,<lb/>
die Stätten gegen&#x017F;eitiger Men&#x017F;chenliebe. Und wie hoch &#x017F;tand<lb/>
den Alten der Herd des Hau&#x017F;es, der heilige Mittelpunkt der<lb/>
Familie, wie lebten &#x017F;ie auch mit den abge&#x017F;chiedenen Hausge¬<lb/>
no&#x017F;&#x017F;en in treuer Gemein&#x017F;chaft fort, und wie äng&#x017F;tlich &#x017F;orgte<lb/>
jedes Gemeinwe&#x017F;en dafür, daß kein Herdfeuer erlö&#x017F;che! Wie<lb/>
für die Altäre des Landes, kämpften die Bürger für den<lb/>
Herd ihrer Wohnhäu&#x017F;er, durch welchen &#x017F;ie &#x017F;ich mit dem Vater¬<lb/>
lande unauflöslich verbunden und der vollen Bürgerehren<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0201] Die Freundſchaft im Alterthume bekenne, ihnen huldige und von jeder Läſterung und Entweihung ſich fern halte; alſo ſie nimmt auch ihrerſeits den Trieb der Selbſtſucht in heilſame Zucht und übt die Tugend der So¬ phroſyne in einer höheren Sphäre, als der einer bloß bürger¬ lichen Geſetzlichkeit. Die Götter verlangen eine höhere Rein¬ heit. Apollo ſtraft den, der ſich erfrecht, mit den Wünſchen unreiner Selbſtſucht ſeinem Orakel zu nahen. Trotzdem war die griechiſche Religion auch auf ihrer höchſten Stufe, der des delphiſchen Apollodienſtes, außer Stande, den Menſchen frei zu machen vom Joche der Selbſtſucht. Wohl demüthigte ſich der religiöſe Menſch in Opfer und Gebet vor den unſichtbaren Gewalten, wohl fühlte er bei allen großen und kleinen Angelegenheiten die Unentbehrlichkeit gött¬ licher Hülfe; auch näherte ihn die Kunſt den Göttern und zeigte ihm im Antlitze des olympiſchen Zeus die Fülle ſeiner Macht und Gnade, aber die Triebe des menſchlichen Herzens wurden nicht umgewandelt; dazu erſchöpfte ſich das Weſen der Religion zu ſehr in äußerlichem Thun. Es muß aber ein Innerliches ſein, was den Menſchen wahrhaft frei macht, ein neues Lebensgeſetz, welches das alte verdrängt, das ihn lehrt ſich ſelbſt zu finden, indem er ſich verliert, und durch volle Hingabe erſt recht ſein eigen zu werden. Nur durch die Liebe iſt eine rechte Ueberwindung der Selbſtſucht möglich, und da von einer Liebe der Gottheit zum Menſchengeſchlechte die alte Welt kein Bewußtſein hatte, ſo konnte auch ihre Frömmigkeit keine Gegenliebe ſein und ihre Religion keine perſönliche Hin¬ gebung veranlaſſen. Um ſo wichtiger waren nun die menſchlichen Beziehungen, die Stätten gegenſeitiger Menſchenliebe. Und wie hoch ſtand den Alten der Herd des Hauſes, der heilige Mittelpunkt der Familie, wie lebten ſie auch mit den abgeſchiedenen Hausge¬ noſſen in treuer Gemeinſchaft fort, und wie ängſtlich ſorgte jedes Gemeinweſen dafür, daß kein Herdfeuer erlöſche! Wie für die Altäre des Landes, kämpften die Bürger für den Herd ihrer Wohnhäuſer, durch welchen ſie ſich mit dem Vater¬ lande unauflöslich verbunden und der vollen Bürgerehren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/201
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/201>, abgerufen am 24.11.2024.