Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Unfreiheit der alten Welt. wissens als einer von allen Himmelszeichen unabhängigenStimme Gottes in des Menschen Brust und der im Gewissen bezeugten persönlichen Verantwortlichkeit, welcher man sich nicht feige entziehen kann, ohne zugleich seine edelsten Rechte preis zu geben. Die Erfüllung solcher Pflichten, welche dem sittlichen Menschen klar ins Herz geschrieben sind, macht darum der Hellene nicht von ängstlicher Naturbeobachtung abhängig, und als der köstlichste Wahlspruch dieses sittlichen Freiheitsmuthes schwebt uns Allen das Wort des homerischen Helden vor der Seele, welcher sich unwillig losreißt, als man ihn eines übeln Vorzeichens wegen vom Kampfe zurückhalten will: Nein, wir folgen getrost dem Ruf, der oben vom Zeus stammt, Welchem die sterbliche Welt und die Himmlischen alle ge¬ horchen. Ein Wahrzeichen nur gilt -- das ist für die Heimath zu streiten. Dieses Freiheitsgefühl offenbart sich auch in den Formen Die Unfreiheit der alten Welt. wiſſens als einer von allen Himmelszeichen unabhängigenStimme Gottes in des Menſchen Bruſt und der im Gewiſſen bezeugten perſönlichen Verantwortlichkeit, welcher man ſich nicht feige entziehen kann, ohne zugleich ſeine edelſten Rechte preis zu geben. Die Erfüllung ſolcher Pflichten, welche dem ſittlichen Menſchen klar ins Herz geſchrieben ſind, macht darum der Hellene nicht von ängſtlicher Naturbeobachtung abhängig, und als der köſtlichſte Wahlſpruch dieſes ſittlichen Freiheitsmuthes ſchwebt uns Allen das Wort des homeriſchen Helden vor der Seele, welcher ſich unwillig losreißt, als man ihn eines übeln Vorzeichens wegen vom Kampfe zurückhalten will: Nein, wir folgen getroſt dem Ruf, der oben vom Zeus ſtammt, Welchem die ſterbliche Welt und die Himmliſchen alle ge¬ horchen. Ein Wahrzeichen nur gilt — das iſt für die Heimath zu ſtreiten. Dieſes Freiheitsgefühl offenbart ſich auch in den Formen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0186" n="170"/><fw place="top" type="header">Die Unfreiheit der alten Welt.<lb/></fw> wiſſens als einer von allen Himmelszeichen unabhängigen<lb/> Stimme Gottes in des Menſchen Bruſt und der im Gewiſſen<lb/> bezeugten perſönlichen Verantwortlichkeit, welcher man ſich nicht<lb/> feige entziehen kann, ohne zugleich ſeine edelſten Rechte preis<lb/> zu geben. Die Erfüllung ſolcher Pflichten, welche dem ſittlichen<lb/> Menſchen klar ins Herz geſchrieben ſind, macht darum der<lb/> Hellene nicht von ängſtlicher Naturbeobachtung abhängig, und<lb/> als der köſtlichſte Wahlſpruch dieſes ſittlichen Freiheitsmuthes<lb/> ſchwebt uns Allen das Wort des homeriſchen Helden vor der<lb/> Seele, welcher ſich unwillig losreißt, als man ihn eines übeln<lb/> Vorzeichens wegen vom Kampfe zurückhalten will:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Nein, wir folgen getroſt dem Ruf, der oben vom Zeus<lb/><hi rendition="#et">ſtammt,</hi></l><lb/> <l>Welchem die ſterbliche Welt und die Himmliſchen alle ge¬<lb/><hi rendition="#et">horchen.</hi></l><lb/> <l>Ein Wahrzeichen nur gilt — das iſt für die Heimath<lb/><hi rendition="#et">zu ſtreiten.</hi></l><lb/> </lg> <p>Dieſes Freiheitsgefühl offenbart ſich auch in den Formen<lb/> der Mantik. Die Naturerſcheinungen, auch Todtenbeſchwörung,<lb/> Traumgeſichter und Würfelloſe treten zurück und der menſch¬<lb/> liche Geiſt wird ſelbſt der Träger und das Organ des höheren<lb/> Wiſſens. Freilich nicht in ungebundener und eigenwilliger<lb/> Freiheit. Vielmehr iſt der Seher dem ſich offenbarenden Gotte<lb/> gegenüber leidend, niedergeworfen von ſeiner Macht und über¬<lb/> wältigt; wie eine Laſt liegt auf ihm des Gottes Mittheilung.<lb/> Aber dennoch iſt er nicht bloß ein todtes Werkzeug und ein<lb/> zufälliges Mittel, ſondern, ſo lange die Mantik ihre Ehre<lb/> hatte, waren die Seher Auserwählte des Volks, und es ver¬<lb/> einigten ſich in ihnen zwei ſehr verſchiedene Eigenſchaften, die<lb/> Empfänglichkeit für eine Begeiſterung, welche den Menſchen<lb/> aus ſich heraushebt, und andererſeits die Klarheit, der Scharf¬<lb/> ſinn und die kunſtmäßige Sicherheit in der Enträthſelung und<lb/> Anwendung der göttlichen Winke, ſchwärmeriſche Verzückung<lb/> und nüchterner Verſtand, ein Außer-ſich-ſein und die höchſte<lb/> Beſonnenheit.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [170/0186]
Die Unfreiheit der alten Welt.
wiſſens als einer von allen Himmelszeichen unabhängigen
Stimme Gottes in des Menſchen Bruſt und der im Gewiſſen
bezeugten perſönlichen Verantwortlichkeit, welcher man ſich nicht
feige entziehen kann, ohne zugleich ſeine edelſten Rechte preis
zu geben. Die Erfüllung ſolcher Pflichten, welche dem ſittlichen
Menſchen klar ins Herz geſchrieben ſind, macht darum der
Hellene nicht von ängſtlicher Naturbeobachtung abhängig, und
als der köſtlichſte Wahlſpruch dieſes ſittlichen Freiheitsmuthes
ſchwebt uns Allen das Wort des homeriſchen Helden vor der
Seele, welcher ſich unwillig losreißt, als man ihn eines übeln
Vorzeichens wegen vom Kampfe zurückhalten will:
Nein, wir folgen getroſt dem Ruf, der oben vom Zeus
ſtammt,
Welchem die ſterbliche Welt und die Himmliſchen alle ge¬
horchen.
Ein Wahrzeichen nur gilt — das iſt für die Heimath
zu ſtreiten.
Dieſes Freiheitsgefühl offenbart ſich auch in den Formen
der Mantik. Die Naturerſcheinungen, auch Todtenbeſchwörung,
Traumgeſichter und Würfelloſe treten zurück und der menſch¬
liche Geiſt wird ſelbſt der Träger und das Organ des höheren
Wiſſens. Freilich nicht in ungebundener und eigenwilliger
Freiheit. Vielmehr iſt der Seher dem ſich offenbarenden Gotte
gegenüber leidend, niedergeworfen von ſeiner Macht und über¬
wältigt; wie eine Laſt liegt auf ihm des Gottes Mittheilung.
Aber dennoch iſt er nicht bloß ein todtes Werkzeug und ein
zufälliges Mittel, ſondern, ſo lange die Mantik ihre Ehre
hatte, waren die Seher Auserwählte des Volks, und es ver¬
einigten ſich in ihnen zwei ſehr verſchiedene Eigenſchaften, die
Empfänglichkeit für eine Begeiſterung, welche den Menſchen
aus ſich heraushebt, und andererſeits die Klarheit, der Scharf¬
ſinn und die kunſtmäßige Sicherheit in der Enträthſelung und
Anwendung der göttlichen Winke, ſchwärmeriſche Verzückung
und nüchterner Verſtand, ein Außer-ſich-ſein und die höchſte
Beſonnenheit.
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