Athens abhängig, indem die Bürger nun mit kühnem Selbst¬ gefühl über den Nothbedarf des Lebens hinausgingen und jedem geistigen Fortschritt folgten.
Niemals aber ist das Verhältniß von Arbeit und Muße in gleichem Grade ein Gegenstand der Staatskunst geworden wie im perikleischen Athen. Hier wurde einerseits jeder Ar¬ beit die volle Ehre gegeben und des Bürgers Kraft in Krieg und Frieden angespannt, andererseits eine Fülle des geistigen Genusses dargeboten als wohlverdienter Lohn der Tapferkeit, um der steigenden Unruhe des Lebens durch eine auf das Würdigste angewandte Muße das Gleichgewicht zu halten, um die Athener zu gewöhnen, das Schöne ohne Verweichlichung zu lieben und mit dem offnen Sinn für Wissenschaft und Kunst die pflichttreue Arbeitsamkeit des Bürgers zu verbinden.
Alt-Italien ist im Ganzen der arischen Lebensauf¬ fassung treuer geblieben als die griechische Halbinsel mit ihrer mehr zersetzten und tiefer durchwühlten Bevölkerung. Der Italiker blieb in näherm Zusammenhange mit dem Boden und richtete darnach Arbeit und Muße ein. Darum tritt auch die Freude an der Natur und an dem stillen Zusammenleben mit ihr viel kräftiger hervor. Sie wurde auch festgehalten, als mit der griechischen Bildung der Genuß griechischer Muße sich einbürgerte und als man, wie Seneca thut, Muße ohne Wissenschaft mit dem Zustand eines lebendig Begrabenen ver¬ glich. Man machte in Italien einen stärkeren Unterschied zwischen Stadt und Land, als es bei den Griechen der Fall war, denen die Stadt der Mittelpunkt aller Lebensrichtungen war. Man gewöhnte sich, Geschäft und Muße räumlich zu trennen, und glaubte, nur in ländlicher Zurückgezogenheit dich¬ ten und philosophiren zu können.
In der Weltstadt Rom wurden alle angestammten Lebens¬ anschauungen erschüttert; man suchte nach neuen Haltpunkten und gerieth unter den Einfluß ausländischer Volkssitten und namentlich orientalischer Gebräuche, welche durch uralte Gel¬ tung und feste Ueberlieferung auf die rathlos schwankenden Gemüther Eindruck machten. Da mußten sie aber besonders
Arbeit und Muße.
Athens abhängig, indem die Bürger nun mit kühnem Selbſt¬ gefühl über den Nothbedarf des Lebens hinausgingen und jedem geiſtigen Fortſchritt folgten.
Niemals aber iſt das Verhältniß von Arbeit und Muße in gleichem Grade ein Gegenſtand der Staatskunſt geworden wie im perikleiſchen Athen. Hier wurde einerſeits jeder Ar¬ beit die volle Ehre gegeben und des Bürgers Kraft in Krieg und Frieden angeſpannt, andererſeits eine Fülle des geiſtigen Genuſſes dargeboten als wohlverdienter Lohn der Tapferkeit, um der ſteigenden Unruhe des Lebens durch eine auf das Würdigſte angewandte Muße das Gleichgewicht zu halten, um die Athener zu gewöhnen, das Schöne ohne Verweichlichung zu lieben und mit dem offnen Sinn für Wiſſenſchaft und Kunſt die pflichttreue Arbeitſamkeit des Bürgers zu verbinden.
Alt-Italien iſt im Ganzen der ariſchen Lebensauf¬ faſſung treuer geblieben als die griechiſche Halbinſel mit ihrer mehr zerſetzten und tiefer durchwühlten Bevölkerung. Der Italiker blieb in näherm Zuſammenhange mit dem Boden und richtete darnach Arbeit und Muße ein. Darum tritt auch die Freude an der Natur und an dem ſtillen Zuſammenleben mit ihr viel kräftiger hervor. Sie wurde auch feſtgehalten, als mit der griechiſchen Bildung der Genuß griechiſcher Muße ſich einbürgerte und als man, wie Seneca thut, Muße ohne Wiſſenſchaft mit dem Zuſtand eines lebendig Begrabenen ver¬ glich. Man machte in Italien einen ſtärkeren Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, als es bei den Griechen der Fall war, denen die Stadt der Mittelpunkt aller Lebensrichtungen war. Man gewöhnte ſich, Geſchäft und Muße räumlich zu trennen, und glaubte, nur in ländlicher Zurückgezogenheit dich¬ ten und philoſophiren zu können.
In der Weltſtadt Rom wurden alle angeſtammten Lebens¬ anſchauungen erſchüttert; man ſuchte nach neuen Haltpunkten und gerieth unter den Einfluß ausländiſcher Volksſitten und namentlich orientaliſcher Gebräuche, welche durch uralte Gel¬ tung und feſte Ueberlieferung auf die rathlos ſchwankenden Gemüther Eindruck machten. Da mußten ſie aber beſonders
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Arbeit und Muße.
Athens abhängig, indem die Bürger nun mit kühnem Selbſt¬
gefühl über den Nothbedarf des Lebens hinausgingen und
jedem geiſtigen Fortſchritt folgten.
Niemals aber iſt das Verhältniß von Arbeit und Muße
in gleichem Grade ein Gegenſtand der Staatskunſt geworden
wie im perikleiſchen Athen. Hier wurde einerſeits jeder Ar¬
beit die volle Ehre gegeben und des Bürgers Kraft in Krieg
und Frieden angeſpannt, andererſeits eine Fülle des geiſtigen
Genuſſes dargeboten als wohlverdienter Lohn der Tapferkeit,
um der ſteigenden Unruhe des Lebens durch eine auf das
Würdigſte angewandte Muße das Gleichgewicht zu halten, um
die Athener zu gewöhnen, das Schöne ohne Verweichlichung
zu lieben und mit dem offnen Sinn für Wiſſenſchaft und
Kunſt die pflichttreue Arbeitſamkeit des Bürgers zu verbinden.
Alt-Italien iſt im Ganzen der ariſchen Lebensauf¬
faſſung treuer geblieben als die griechiſche Halbinſel mit ihrer
mehr zerſetzten und tiefer durchwühlten Bevölkerung. Der
Italiker blieb in näherm Zuſammenhange mit dem Boden
und richtete darnach Arbeit und Muße ein. Darum tritt auch
die Freude an der Natur und an dem ſtillen Zuſammenleben
mit ihr viel kräftiger hervor. Sie wurde auch feſtgehalten,
als mit der griechiſchen Bildung der Genuß griechiſcher Muße
ſich einbürgerte und als man, wie Seneca thut, Muße ohne
Wiſſenſchaft mit dem Zuſtand eines lebendig Begrabenen ver¬
glich. Man machte in Italien einen ſtärkeren Unterſchied
zwiſchen Stadt und Land, als es bei den Griechen der Fall
war, denen die Stadt der Mittelpunkt aller Lebensrichtungen
war. Man gewöhnte ſich, Geſchäft und Muße räumlich zu
trennen, und glaubte, nur in ländlicher Zurückgezogenheit dich¬
ten und philoſophiren zu können.
In der Weltſtadt Rom wurden alle angeſtammten Lebens¬
anſchauungen erſchüttert; man ſuchte nach neuen Haltpunkten
und gerieth unter den Einfluß ausländiſcher Volksſitten und
namentlich orientaliſcher Gebräuche, welche durch uralte Gel¬
tung und feſte Ueberlieferung auf die rathlos ſchwankenden
Gemüther Eindruck machten. Da mußten ſie aber beſonders
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/171>, abgerufen am 27.07.2024.
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