quickende Pause zu erscheinen; den Griechen erschien sie als der normale Zustand und sie hatten für den Begriff des Geschäfts nur den Ausdruck Ascholia d. h. Unmuße. Ebenso verhält es sich mit otium und negotium. Wollten wir also unsere akademischen Verhältnisse nach dem Vorbilde der klassi¬ schen Völker betrachten, so könnten wir die Semester nur als Unterbrechung der Ferien ansehen.
Im Allgemeinen kann man sagen, daß Völker und Länder sich darnach unterscheiden, ob sie die Arbeit auf Kosten der Muße oder diese auf Kosten jener vortreten lassen. Blickt man auf den Winter einer nordischen Stadt zurück, so wird hier, wie Jeder mir zugestehen wird, auch die gesellige Er¬ holung mit solchem Kraftaufwande betrieben, daß die Muße zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in die Hei¬ math zurück, so pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte Anspannung des Studiums nicht lange fortsetzen könne, und die Arbeit verwandelt sich nach und nach in eine von seiner Laune abhängige Ausfüllung behaglicher Mußestunden.
Freilich beruht dieser Unterschied nicht unbedingt auf dem Breitengrade und dem durchschnittlichen Barometerstande eines Landes; auch in heißen Zonen ist kräftig gedacht und geschaffen worden, so lange die Volkskraft lebendig war. Das bezeugen die Heroensagen der Inder. Da ist Arbeit und Muße voll ent¬ wickelt und zu fruchtbarster Wechselwirkung gekommen. Denn wo Poesie gedeiht, ist sie die Frucht edler Muße, und Heldenlied ist ohne Heldenthum nicht denkbar. In der geschichtlichen Zeit aber verwischt sich der Gegensatz, der jedem gesunden Volks¬ leben unentbehrlich ist, und wir sehen, wie das Ziel des Strebens nicht mehr in die Erledigung praktischer Aufgaben gesetzt wird, sondern in eine den persönlichen Willen vernich¬ tende und alle Thatkraft lähmende Hingabe an die Betrach¬ tung des Uebersinnlichen, in eine immer völligere Rückkehr des Einzelwesens in die Gottheit.
Wie sehr aber diese Auffassung mit Land und Volk zu¬ sammenhängt, geht daraus hervor, daß auch die im Wider¬
Arbeit und Muße.
quickende Pauſe zu erſcheinen; den Griechen erſchien ſie als der normale Zuſtand und ſie hatten für den Begriff des Geſchäfts nur den Ausdruck Ascholia d. h. Unmuße. Ebenſo verhält es ſich mit otium und negotium. Wollten wir alſo unſere akademiſchen Verhältniſſe nach dem Vorbilde der klaſſi¬ ſchen Völker betrachten, ſo könnten wir die Semeſter nur als Unterbrechung der Ferien anſehen.
Im Allgemeinen kann man ſagen, daß Völker und Länder ſich darnach unterſcheiden, ob ſie die Arbeit auf Koſten der Muße oder dieſe auf Koſten jener vortreten laſſen. Blickt man auf den Winter einer nordiſchen Stadt zurück, ſo wird hier, wie Jeder mir zugeſtehen wird, auch die geſellige Er¬ holung mit ſolchem Kraftaufwande betrieben, daß die Muße zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in die Hei¬ math zurück, ſo pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte Anſpannung des Studiums nicht lange fortſetzen könne, und die Arbeit verwandelt ſich nach und nach in eine von ſeiner Laune abhängige Ausfüllung behaglicher Mußeſtunden.
Freilich beruht dieſer Unterſchied nicht unbedingt auf dem Breitengrade und dem durchſchnittlichen Barometerſtande eines Landes; auch in heißen Zonen iſt kräftig gedacht und geſchaffen worden, ſo lange die Volkskraft lebendig war. Das bezeugen die Heroenſagen der Inder. Da iſt Arbeit und Muße voll ent¬ wickelt und zu fruchtbarſter Wechſelwirkung gekommen. Denn wo Poeſie gedeiht, iſt ſie die Frucht edler Muße, und Heldenlied iſt ohne Heldenthum nicht denkbar. In der geſchichtlichen Zeit aber verwiſcht ſich der Gegenſatz, der jedem geſunden Volks¬ leben unentbehrlich iſt, und wir ſehen, wie das Ziel des Strebens nicht mehr in die Erledigung praktiſcher Aufgaben geſetzt wird, ſondern in eine den perſönlichen Willen vernich¬ tende und alle Thatkraft lähmende Hingabe an die Betrach¬ tung des Ueberſinnlichen, in eine immer völligere Rückkehr des Einzelweſens in die Gottheit.
Wie ſehr aber dieſe Auffaſſung mit Land und Volk zu¬ ſammenhängt, geht daraus hervor, daß auch die im Wider¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0165"n="149"/><fwplace="top"type="header">Arbeit und Muße.<lb/></fw> quickende Pauſe zu erſcheinen; den Griechen erſchien ſie als<lb/>
der normale Zuſtand und ſie hatten für den Begriff des<lb/>
Geſchäfts nur den Ausdruck <hirendition="#aq">Ascholia</hi> d. h. Unmuße. Ebenſo<lb/>
verhält es ſich mit <hirendition="#aq">otium</hi> und <hirendition="#aq">negotium</hi>. Wollten wir alſo<lb/>
unſere akademiſchen Verhältniſſe nach dem Vorbilde der klaſſi¬<lb/>ſchen Völker betrachten, ſo könnten wir die Semeſter nur als<lb/>
Unterbrechung der Ferien anſehen.</p><lb/><p>Im Allgemeinen kann man ſagen, daß Völker und Länder<lb/>ſich darnach unterſcheiden, ob ſie die Arbeit auf Koſten der<lb/>
Muße oder dieſe auf Koſten jener vortreten laſſen. Blickt<lb/>
man auf den Winter einer nordiſchen Stadt zurück, ſo wird<lb/>
hier, wie Jeder mir zugeſtehen wird, auch die geſellige Er¬<lb/>
holung mit ſolchem Kraftaufwande betrieben, daß die Muße<lb/>
zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in die Hei¬<lb/>
math zurück, ſo pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte<lb/>
Anſpannung des Studiums nicht lange fortſetzen könne, und<lb/>
die Arbeit verwandelt ſich nach und nach in eine von ſeiner<lb/>
Laune abhängige Ausfüllung behaglicher Mußeſtunden.</p><lb/><p>Freilich beruht dieſer Unterſchied nicht unbedingt auf dem<lb/>
Breitengrade und dem durchſchnittlichen Barometerſtande eines<lb/>
Landes; auch in heißen Zonen iſt kräftig gedacht und geſchaffen<lb/>
worden, ſo lange die Volkskraft lebendig war. Das bezeugen<lb/>
die Heroenſagen der Inder. Da iſt Arbeit und Muße voll ent¬<lb/>
wickelt und zu fruchtbarſter Wechſelwirkung gekommen. Denn<lb/>
wo Poeſie gedeiht, iſt ſie die Frucht edler Muße, und Heldenlied<lb/>
iſt ohne Heldenthum nicht denkbar. In der geſchichtlichen Zeit<lb/>
aber verwiſcht ſich der Gegenſatz, der jedem geſunden Volks¬<lb/>
leben unentbehrlich iſt, und wir ſehen, wie das Ziel des<lb/>
Strebens nicht mehr in die Erledigung praktiſcher Aufgaben<lb/>
geſetzt wird, ſondern in eine den perſönlichen Willen vernich¬<lb/>
tende und alle Thatkraft lähmende Hingabe an die Betrach¬<lb/>
tung des Ueberſinnlichen, in eine immer völligere Rückkehr<lb/>
des Einzelweſens in die Gottheit.</p><lb/><p>Wie ſehr aber dieſe Auffaſſung mit Land und Volk zu¬<lb/>ſammenhängt, geht daraus hervor, daß auch die im Wider¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[149/0165]
Arbeit und Muße.
quickende Pauſe zu erſcheinen; den Griechen erſchien ſie als
der normale Zuſtand und ſie hatten für den Begriff des
Geſchäfts nur den Ausdruck Ascholia d. h. Unmuße. Ebenſo
verhält es ſich mit otium und negotium. Wollten wir alſo
unſere akademiſchen Verhältniſſe nach dem Vorbilde der klaſſi¬
ſchen Völker betrachten, ſo könnten wir die Semeſter nur als
Unterbrechung der Ferien anſehen.
Im Allgemeinen kann man ſagen, daß Völker und Länder
ſich darnach unterſcheiden, ob ſie die Arbeit auf Koſten der
Muße oder dieſe auf Koſten jener vortreten laſſen. Blickt
man auf den Winter einer nordiſchen Stadt zurück, ſo wird
hier, wie Jeder mir zugeſtehen wird, auch die geſellige Er¬
holung mit ſolchem Kraftaufwande betrieben, daß die Muße
zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in die Hei¬
math zurück, ſo pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte
Anſpannung des Studiums nicht lange fortſetzen könne, und
die Arbeit verwandelt ſich nach und nach in eine von ſeiner
Laune abhängige Ausfüllung behaglicher Mußeſtunden.
Freilich beruht dieſer Unterſchied nicht unbedingt auf dem
Breitengrade und dem durchſchnittlichen Barometerſtande eines
Landes; auch in heißen Zonen iſt kräftig gedacht und geſchaffen
worden, ſo lange die Volkskraft lebendig war. Das bezeugen
die Heroenſagen der Inder. Da iſt Arbeit und Muße voll ent¬
wickelt und zu fruchtbarſter Wechſelwirkung gekommen. Denn
wo Poeſie gedeiht, iſt ſie die Frucht edler Muße, und Heldenlied
iſt ohne Heldenthum nicht denkbar. In der geſchichtlichen Zeit
aber verwiſcht ſich der Gegenſatz, der jedem geſunden Volks¬
leben unentbehrlich iſt, und wir ſehen, wie das Ziel des
Strebens nicht mehr in die Erledigung praktiſcher Aufgaben
geſetzt wird, ſondern in eine den perſönlichen Willen vernich¬
tende und alle Thatkraft lähmende Hingabe an die Betrach¬
tung des Ueberſinnlichen, in eine immer völligere Rückkehr
des Einzelweſens in die Gottheit.
Wie ſehr aber dieſe Auffaſſung mit Land und Volk zu¬
ſammenhängt, geht daraus hervor, daß auch die im Wider¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/165>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.