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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Wettkampf.
wie treffend hebt er in seinen Briefen die vorbildliche Bedeu¬
tung der hellenischen Agonistik hervor! Diese findet er zunächst
in der Enthaltsamkeit, der sich der Kämpfer befleißigen muß,
um seinen Leib leicht und kampfrüstig, seine Glieder schwung¬
kräftig zu erhalten; zweitens ist es der Gehorsam, der gefor¬
dert wird, die Verläugnung aller selbstsüchtigen Willkür, die
Anerkennung einer festen Ordnung, in welcher dem Kleinode
nachgejagt werden soll; es ist endlich -- wie es die Alten in
den Erzbildern ihrer Olympioniken unnachahmlich darzustellen
wußten -- das Sich-vorwärts-strecken des ganzen Menschen
nach Einem Ziele, zu dem Alle berufen werden, zu dem Viele
laufen, aber nur Wenige gelangen.

So sollen also auch wir das Große, das im Alterthume
offenbar geworden ist, nicht bloß erkennen und schön finden;
wir sollen nicht schwärmen in bewundernder Erinnerung an
das hohe Streben der Hellenen, sondern wir sollen das, was
daran ewig gültig ist, der Vergangenheit entreißen und uns
mit kräftigem Entschlusse aneignen. Denn nicht für sich, son¬
dern für alle kommenden Geschlechter haben die Hellenen den
Barbaren alter und neuer Zeit gegenüber die Wahrheit an
das Licht gebracht, daß nicht das Besitzen und Genießen, son¬
dern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menschen
Beruf und seine einzige wahre Freudenquelle sei.

Man hat den Deutschen wohl die Ehre erwiesen, ihnen
ein besonderes Verständniß des hellenischen Wesens zuzutrauen.
Gewiß ist, daß unser Volk in seiner ganzen Entwickelung durch
eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geschichte der Hellenen
hingewiesen ist. Die Geschichte beider Völker ist nicht nur
aus der ihrer Stämme erwachsen, sondern hat den Charakter
einer solchen länger festgehalten, als bei anderen Völkern der
Fall ist. In Hellas wie in Deutschland hat sich das lebendige
Sonderbewußtsein der Stämme gegen den Abschluß einer aus¬
gleichenden Staatsordnung gesträubt und alle Versuche ver¬
eitelt, die gemeinsame Volksthümlichkeit in allgemein gültigen
und dauerhaften Staatsformen auszuprägen. Hier wie dort
ist die nationale Einheit ein geistiger, ein innerlicher Besitz

Der Wettkampf.
wie treffend hebt er in ſeinen Briefen die vorbildliche Bedeu¬
tung der helleniſchen Agoniſtik hervor! Dieſe findet er zunächſt
in der Enthaltſamkeit, der ſich der Kämpfer befleißigen muß,
um ſeinen Leib leicht und kampfrüſtig, ſeine Glieder ſchwung¬
kräftig zu erhalten; zweitens iſt es der Gehorſam, der gefor¬
dert wird, die Verläugnung aller ſelbſtſüchtigen Willkür, die
Anerkennung einer feſten Ordnung, in welcher dem Kleinode
nachgejagt werden ſoll; es iſt endlich — wie es die Alten in
den Erzbildern ihrer Olympioniken unnachahmlich darzuſtellen
wußten — das Sich-vorwärts-ſtrecken des ganzen Menſchen
nach Einem Ziele, zu dem Alle berufen werden, zu dem Viele
laufen, aber nur Wenige gelangen.

So ſollen alſo auch wir das Große, das im Alterthume
offenbar geworden iſt, nicht bloß erkennen und ſchön finden;
wir ſollen nicht ſchwärmen in bewundernder Erinnerung an
das hohe Streben der Hellenen, ſondern wir ſollen das, was
daran ewig gültig iſt, der Vergangenheit entreißen und uns
mit kräftigem Entſchluſſe aneignen. Denn nicht für ſich, ſon¬
dern für alle kommenden Geſchlechter haben die Hellenen den
Barbaren alter und neuer Zeit gegenüber die Wahrheit an
das Licht gebracht, daß nicht das Beſitzen und Genießen, ſon¬
dern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menſchen
Beruf und ſeine einzige wahre Freudenquelle ſei.

Man hat den Deutſchen wohl die Ehre erwieſen, ihnen
ein beſonderes Verſtändniß des helleniſchen Weſens zuzutrauen.
Gewiß iſt, daß unſer Volk in ſeiner ganzen Entwickelung durch
eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geſchichte der Hellenen
hingewieſen iſt. Die Geſchichte beider Völker iſt nicht nur
aus der ihrer Stämme erwachſen, ſondern hat den Charakter
einer ſolchen länger feſtgehalten, als bei anderen Völkern der
Fall iſt. In Hellas wie in Deutſchland hat ſich das lebendige
Sonderbewußtſein der Stämme gegen den Abſchluß einer aus¬
gleichenden Staatsordnung geſträubt und alle Verſuche ver¬
eitelt, die gemeinſame Volksthümlichkeit in allgemein gültigen
und dauerhaften Staatsformen auszuprägen. Hier wie dort
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[144/0160] Der Wettkampf. wie treffend hebt er in ſeinen Briefen die vorbildliche Bedeu¬ tung der helleniſchen Agoniſtik hervor! Dieſe findet er zunächſt in der Enthaltſamkeit, der ſich der Kämpfer befleißigen muß, um ſeinen Leib leicht und kampfrüſtig, ſeine Glieder ſchwung¬ kräftig zu erhalten; zweitens iſt es der Gehorſam, der gefor¬ dert wird, die Verläugnung aller ſelbſtſüchtigen Willkür, die Anerkennung einer feſten Ordnung, in welcher dem Kleinode nachgejagt werden ſoll; es iſt endlich — wie es die Alten in den Erzbildern ihrer Olympioniken unnachahmlich darzuſtellen wußten — das Sich-vorwärts-ſtrecken des ganzen Menſchen nach Einem Ziele, zu dem Alle berufen werden, zu dem Viele laufen, aber nur Wenige gelangen. So ſollen alſo auch wir das Große, das im Alterthume offenbar geworden iſt, nicht bloß erkennen und ſchön finden; wir ſollen nicht ſchwärmen in bewundernder Erinnerung an das hohe Streben der Hellenen, ſondern wir ſollen das, was daran ewig gültig iſt, der Vergangenheit entreißen und uns mit kräftigem Entſchluſſe aneignen. Denn nicht für ſich, ſon¬ dern für alle kommenden Geſchlechter haben die Hellenen den Barbaren alter und neuer Zeit gegenüber die Wahrheit an das Licht gebracht, daß nicht das Beſitzen und Genießen, ſon¬ dern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menſchen Beruf und ſeine einzige wahre Freudenquelle ſei. Man hat den Deutſchen wohl die Ehre erwieſen, ihnen ein beſonderes Verſtändniß des helleniſchen Weſens zuzutrauen. Gewiß iſt, daß unſer Volk in ſeiner ganzen Entwickelung durch eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geſchichte der Hellenen hingewieſen iſt. Die Geſchichte beider Völker iſt nicht nur aus der ihrer Stämme erwachſen, ſondern hat den Charakter einer ſolchen länger feſtgehalten, als bei anderen Völkern der Fall iſt. In Hellas wie in Deutſchland hat ſich das lebendige Sonderbewußtſein der Stämme gegen den Abſchluß einer aus¬ gleichenden Staatsordnung geſträubt und alle Verſuche ver¬ eitelt, die gemeinſame Volksthümlichkeit in allgemein gültigen und dauerhaften Staatsformen auszuprägen. Hier wie dort iſt die nationale Einheit ein geiſtiger, ein innerlicher Beſitz

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/160>, abgerufen am 04.12.2024.