sie doch weit entfernt, den Trieb, welchen der Wetteifer anregt, seiner natürlichen Beschaffenheit zu überlassen, in welcher er mehr zum Schlechten als zum Guten führt. Sie haben den wilden Trieb gezähmt, sie haben ihn gesittigt und veredelt, indem sie ihn der Religion dienstbar gemacht haben.
An sich scheint die Religion, in welcher Form sie sich auch darstellen mag, am wenigsten geeignet und berufen zu sein, den Trieb des Wetteifers zu erwecken. Im Gefühle des Un¬ vermögens wurzelnd, demüthigt sie den Menschen der Gottheit gegenüber und anstatt ihn zu eigenwilligen Kraftäußerungen und neuen Erwerbungen anzuspornen, verpflichtet sie ihn am Gegebenen festzuhalten und in selbstverläugnender Treue den väterlichen Ueberlieferungen anzuhangen. Wie sehr die Helle¬ nen diese Bedeutung der Religion zu würdigen wußten, be¬ weist die musterhafte Treue, welche sie mitten in der ruhelosen Bewegung ihres bürgerlichen Lebens den überlieferten Ord¬ nungen des Gottesdienstes bewahrt haben, und wenn die Propheten des alten Bundes ihre immer wankelmüthigen Lands¬ leute auf die Heiden hinweisen: Gehet hin in die Inseln Chitim und schauet, ob es daselbst so zugehe, ob die Heiden ihre Götter ändern! -- so findet dies auf alle Hellenen, nament¬ lich auf die Athener Anwendung; es hat in religiösen Dingen kein conservativeres Volk gegeben.
Indessen tritt ja das Volk nicht bloß im Gefühle der Machtlosigkeit und Hülfsbedürftigkeit seinen nationalen Göttern gegenüber, sondern auch beim Opfer des Danks für den em¬ pfangenen Erntesegen, und es scheint die freudige Anerkennung und Aneignung desselben vor den Göttern die natürlichste Form des Dankes zu sein. Darum finden wir bei Hellenen wie bei Barbaren die Opfer mit Opfermahlzeiten, mit frohen Festen und Lustbarkeiten verknüpft. Hier aber tritt uns gerade die Eigenthümlichkeit des hellenischen Wesens recht deutlich ent¬ gegen. Bei den andern Völkern besteht die Festfreude im Vollgenusse der irdischen Güter; die Hellenen kannten eine höhere Freude, und diese fanden sie in der durch jugendlichen Wetteifer gesteigerten und durch Theilnahme des ganzen Volks
Der Wettkampf.
ſie doch weit entfernt, den Trieb, welchen der Wetteifer anregt, ſeiner natürlichen Beſchaffenheit zu überlaſſen, in welcher er mehr zum Schlechten als zum Guten führt. Sie haben den wilden Trieb gezähmt, ſie haben ihn geſittigt und veredelt, indem ſie ihn der Religion dienſtbar gemacht haben.
An ſich ſcheint die Religion, in welcher Form ſie ſich auch darſtellen mag, am wenigſten geeignet und berufen zu ſein, den Trieb des Wetteifers zu erwecken. Im Gefühle des Un¬ vermögens wurzelnd, demüthigt ſie den Menſchen der Gottheit gegenüber und anſtatt ihn zu eigenwilligen Kraftäußerungen und neuen Erwerbungen anzuſpornen, verpflichtet ſie ihn am Gegebenen feſtzuhalten und in ſelbſtverläugnender Treue den väterlichen Ueberlieferungen anzuhangen. Wie ſehr die Helle¬ nen dieſe Bedeutung der Religion zu würdigen wußten, be¬ weiſt die muſterhafte Treue, welche ſie mitten in der ruheloſen Bewegung ihres bürgerlichen Lebens den überlieferten Ord¬ nungen des Gottesdienſtes bewahrt haben, und wenn die Propheten des alten Bundes ihre immer wankelmüthigen Lands¬ leute auf die Heiden hinweiſen: Gehet hin in die Inſeln Chitim und ſchauet, ob es daſelbſt ſo zugehe, ob die Heiden ihre Götter ändern! — ſo findet dies auf alle Hellenen, nament¬ lich auf die Athener Anwendung; es hat in religiöſen Dingen kein conſervativeres Volk gegeben.
Indeſſen tritt ja das Volk nicht bloß im Gefühle der Machtloſigkeit und Hülfsbedürftigkeit ſeinen nationalen Göttern gegenüber, ſondern auch beim Opfer des Danks für den em¬ pfangenen Ernteſegen, und es ſcheint die freudige Anerkennung und Aneignung deſſelben vor den Göttern die natürlichſte Form des Dankes zu ſein. Darum finden wir bei Hellenen wie bei Barbaren die Opfer mit Opfermahlzeiten, mit frohen Feſten und Luſtbarkeiten verknüpft. Hier aber tritt uns gerade die Eigenthümlichkeit des helleniſchen Weſens recht deutlich ent¬ gegen. Bei den andern Völkern beſteht die Feſtfreude im Vollgenuſſe der irdiſchen Güter; die Hellenen kannten eine höhere Freude, und dieſe fanden ſie in der durch jugendlichen Wetteifer geſteigerten und durch Theilnahme des ganzen Volks
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[140/0156]
Der Wettkampf.
ſie doch weit entfernt, den Trieb, welchen der Wetteifer anregt,
ſeiner natürlichen Beſchaffenheit zu überlaſſen, in welcher er
mehr zum Schlechten als zum Guten führt. Sie haben den
wilden Trieb gezähmt, ſie haben ihn geſittigt und veredelt,
indem ſie ihn der Religion dienſtbar gemacht haben.
An ſich ſcheint die Religion, in welcher Form ſie ſich auch
darſtellen mag, am wenigſten geeignet und berufen zu ſein,
den Trieb des Wetteifers zu erwecken. Im Gefühle des Un¬
vermögens wurzelnd, demüthigt ſie den Menſchen der Gottheit
gegenüber und anſtatt ihn zu eigenwilligen Kraftäußerungen
und neuen Erwerbungen anzuſpornen, verpflichtet ſie ihn am
Gegebenen feſtzuhalten und in ſelbſtverläugnender Treue den
väterlichen Ueberlieferungen anzuhangen. Wie ſehr die Helle¬
nen dieſe Bedeutung der Religion zu würdigen wußten, be¬
weiſt die muſterhafte Treue, welche ſie mitten in der ruheloſen
Bewegung ihres bürgerlichen Lebens den überlieferten Ord¬
nungen des Gottesdienſtes bewahrt haben, und wenn die
Propheten des alten Bundes ihre immer wankelmüthigen Lands¬
leute auf die Heiden hinweiſen: Gehet hin in die Inſeln
Chitim und ſchauet, ob es daſelbſt ſo zugehe, ob die Heiden
ihre Götter ändern! — ſo findet dies auf alle Hellenen, nament¬
lich auf die Athener Anwendung; es hat in religiöſen Dingen
kein conſervativeres Volk gegeben.
Indeſſen tritt ja das Volk nicht bloß im Gefühle der
Machtloſigkeit und Hülfsbedürftigkeit ſeinen nationalen Göttern
gegenüber, ſondern auch beim Opfer des Danks für den em¬
pfangenen Ernteſegen, und es ſcheint die freudige Anerkennung
und Aneignung deſſelben vor den Göttern die natürlichſte Form
des Dankes zu ſein. Darum finden wir bei Hellenen wie bei
Barbaren die Opfer mit Opfermahlzeiten, mit frohen Feſten
und Luſtbarkeiten verknüpft. Hier aber tritt uns gerade die
Eigenthümlichkeit des helleniſchen Weſens recht deutlich ent¬
gegen. Bei den andern Völkern beſteht die Feſtfreude im
Vollgenuſſe der irdiſchen Güter; die Hellenen kannten eine
höhere Freude, und dieſe fanden ſie in der durch jugendlichen
Wetteifer geſteigerten und durch Theilnahme des ganzen Volks
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/156>, abgerufen am 27.07.2024.
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