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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
gereiht habe, uns in scheinbar weit entlegene Räume der Welt¬
geschichte und in die verschiedensten Fächer geistiger Thätigkeit
geführt haben, so leiten sie doch alle zu dem Manne zurück,
welcher wie ein Jeder, der in unserer Zeit etwas Großes
leisten will, im Mittelpunkte der Menschengeschichte stehen und
zwei Welten in seinem Geiste tragen muß.

Säulen nach griechischem Maße hat man lange vor
Schinkel aufgerichtet, aber eine dorische Halle, an eine mo¬
derne Fensterwand hinangeschoben, macht eben so wenig ein
griechisches Gebäude, wie ein Citat aus dem Demosthenes
einer Parlamentsrede den Stil klassischer Beredsamkeit auf¬
prägt. Die Alten sind uns nicht deshalb in ihren Werken
erhalten, um von uns citirt zu werden, sondern damit wir
das darin enthaltene ewig Wahre und Gute festhalten. Die
genialsten Philosophen der christlichen Welt haben keine ande¬
ren Gesetze des Denkens zu ersinnen vermocht, als die, welche
Aristoteles in seiner Logik entwickelt hat; so wird auch keine
Folgezeit die Gesetze bildender Kunst umzustoßen vermögen,
welche die Griechen in Marmor geschrieben haben. Das aber
ist Schinkel's Verdienst, daß er einem selbstsüchtigen und zucht¬
losen Originalitätstriebe gegenüber der Welt gezeigt hat, wie
wohl einer vollbürtigen dichterischen Schöpferkraft jene Weis¬
heit und Selbstbeherrschung anstehe, die sich demüthig unter
die Zucht des als wahr erkannten Gesetzes beugt.

Die griechische Muse ist als Dienerin übermüthiger
Herrscherpracht aus ihrem Vaterlande nach Asien und Afrika
gewandert, sie ist als Sklavin nach Rom geschleppt, um dort
in den Palästen der Welteroberer mit ihren Reizen zur Schau
zu stehen -- als die freie Tochter von Hellas ist sie zuerst
wieder bei uns erstanden, um in ihrer keuschen Schönheit unser
Leben zu erfreuen, unseren Sinn zu erheben und uns aus der
unerträglichen Sklaverei der Mode zu befreien. Seit den
Tagen des Perikles ist zuerst wieder bei uns mit vollem und
geistigem Verständnisse hellenischer Kunstgesetze zu bauen ver¬
sucht worden -- es fragt sich, ob auch dies Bestreben wie
eine Modelaune vorübergehen und vergessen werden, oder ob

Die Kunſt der Hellenen.
gereiht habe, uns in ſcheinbar weit entlegene Räume der Welt¬
geſchichte und in die verſchiedenſten Fächer geiſtiger Thätigkeit
geführt haben, ſo leiten ſie doch alle zu dem Manne zurück,
welcher wie ein Jeder, der in unſerer Zeit etwas Großes
leiſten will, im Mittelpunkte der Menſchengeſchichte ſtehen und
zwei Welten in ſeinem Geiſte tragen muß.

Säulen nach griechiſchem Maße hat man lange vor
Schinkel aufgerichtet, aber eine doriſche Halle, an eine mo¬
derne Fenſterwand hinangeſchoben, macht eben ſo wenig ein
griechiſches Gebäude, wie ein Citat aus dem Demoſthenes
einer Parlamentsrede den Stil klaſſiſcher Beredſamkeit auf¬
prägt. Die Alten ſind uns nicht deshalb in ihren Werken
erhalten, um von uns citirt zu werden, ſondern damit wir
das darin enthaltene ewig Wahre und Gute feſthalten. Die
genialſten Philoſophen der chriſtlichen Welt haben keine ande¬
ren Geſetze des Denkens zu erſinnen vermocht, als die, welche
Ariſtoteles in ſeiner Logik entwickelt hat; ſo wird auch keine
Folgezeit die Geſetze bildender Kunſt umzuſtoßen vermögen,
welche die Griechen in Marmor geſchrieben haben. Das aber
iſt Schinkel's Verdienſt, daß er einem ſelbſtſüchtigen und zucht¬
loſen Originalitätstriebe gegenüber der Welt gezeigt hat, wie
wohl einer vollbürtigen dichteriſchen Schöpferkraft jene Weis¬
heit und Selbſtbeherrſchung anſtehe, die ſich demüthig unter
die Zucht des als wahr erkannten Geſetzes beugt.

Die griechiſche Muſe iſt als Dienerin übermüthiger
Herrſcherpracht aus ihrem Vaterlande nach Aſien und Afrika
gewandert, ſie iſt als Sklavin nach Rom geſchleppt, um dort
in den Paläſten der Welteroberer mit ihren Reizen zur Schau
zu ſtehen — als die freie Tochter von Hellas iſt ſie zuerſt
wieder bei uns erſtanden, um in ihrer keuſchen Schönheit unſer
Leben zu erfreuen, unſeren Sinn zu erheben und uns aus der
unerträglichen Sklaverei der Mode zu befreien. Seit den
Tagen des Perikles iſt zuerſt wieder bei uns mit vollem und
geiſtigem Verſtändniſſe helleniſcher Kunſtgeſetze zu bauen ver¬
ſucht worden — es fragt ſich, ob auch dies Beſtreben wie
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[92/0108] Die Kunſt der Hellenen. gereiht habe, uns in ſcheinbar weit entlegene Räume der Welt¬ geſchichte und in die verſchiedenſten Fächer geiſtiger Thätigkeit geführt haben, ſo leiten ſie doch alle zu dem Manne zurück, welcher wie ein Jeder, der in unſerer Zeit etwas Großes leiſten will, im Mittelpunkte der Menſchengeſchichte ſtehen und zwei Welten in ſeinem Geiſte tragen muß. Säulen nach griechiſchem Maße hat man lange vor Schinkel aufgerichtet, aber eine doriſche Halle, an eine mo¬ derne Fenſterwand hinangeſchoben, macht eben ſo wenig ein griechiſches Gebäude, wie ein Citat aus dem Demoſthenes einer Parlamentsrede den Stil klaſſiſcher Beredſamkeit auf¬ prägt. Die Alten ſind uns nicht deshalb in ihren Werken erhalten, um von uns citirt zu werden, ſondern damit wir das darin enthaltene ewig Wahre und Gute feſthalten. Die genialſten Philoſophen der chriſtlichen Welt haben keine ande¬ ren Geſetze des Denkens zu erſinnen vermocht, als die, welche Ariſtoteles in ſeiner Logik entwickelt hat; ſo wird auch keine Folgezeit die Geſetze bildender Kunſt umzuſtoßen vermögen, welche die Griechen in Marmor geſchrieben haben. Das aber iſt Schinkel's Verdienſt, daß er einem ſelbſtſüchtigen und zucht¬ loſen Originalitätstriebe gegenüber der Welt gezeigt hat, wie wohl einer vollbürtigen dichteriſchen Schöpferkraft jene Weis¬ heit und Selbſtbeherrſchung anſtehe, die ſich demüthig unter die Zucht des als wahr erkannten Geſetzes beugt. Die griechiſche Muſe iſt als Dienerin übermüthiger Herrſcherpracht aus ihrem Vaterlande nach Aſien und Afrika gewandert, ſie iſt als Sklavin nach Rom geſchleppt, um dort in den Paläſten der Welteroberer mit ihren Reizen zur Schau zu ſtehen — als die freie Tochter von Hellas iſt ſie zuerſt wieder bei uns erſtanden, um in ihrer keuſchen Schönheit unſer Leben zu erfreuen, unſeren Sinn zu erheben und uns aus der unerträglichen Sklaverei der Mode zu befreien. Seit den Tagen des Perikles iſt zuerſt wieder bei uns mit vollem und geiſtigem Verſtändniſſe helleniſcher Kunſtgeſetze zu bauen ver¬ ſucht worden — es fragt ſich, ob auch dies Beſtreben wie eine Modelaune vorübergehen und vergeſſen werden, oder ob

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/108>, abgerufen am 24.11.2024.