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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
lenen gestellt, aber sie haben todte Formeln und abstrakte Re¬
geln von ihnen zu gewinnen gesucht, und sich dem Buchstaben
derselben in blindem Gehorsam unterworfen. Daraus ist
eine Sklaverei geworden, deren Joch der aufstrebende Volks¬
geist zerbrechen mußte, und die Folge davon ist auch auf dem
Gebiete der Kunst ein Schwanken zwischen Despotismus und
Anarchie gewesen. Unser Volk hat den Geist der Alten, wie
wir es so treffend auszudrücken vermögen, sich zu eigen ge¬
macht; er ist unser Saft und Blut geworden.

Diese Aneignung ist aber nicht vollendet, die Einwirkung
des Alterthums keine geschlossene. Was wir in der Poesie
unsers Volks als eine vollendete Thatsache nachweisen können,
ist im Gebiete der bildenden Kunst kaum begonnen. Das bil¬
dende Alterthum ist uns überhaupt später aufgeschlossen, als
das denkende und dichtende; die Entdeckung der Monumente
ist erst nach langer Frist auf die der Schriftwerke gefolgt und
deshalb auch die Kunstgeschichte der am letzten entwickelte Theil
der Alterthumswissenschaft. Der Mann selbst, in dessen Haupte
der Gedanke einer griechischen Kunstgeschichte geboren ist, er¬
faßte ihn mehr als eine dämmernde Ahnung, als daß er ihn
durchzuführen im Stande gewesen wäre. Wie ferne stand doch
Winckelmann der Welt griechischer Kunst, wie war besonders
ihre Baukunst ihm ein gänzlich Verschlossenes, und indem er
mehr seine eigenen Empfindungen bei der entzückten Anschauung
der Kunstwerke beschrieb, als die Werke selbst und ihre in¬
wohnenden Bildungsgesetze, so wirkte er im Ganzen mehr als
poetisch anregender und sittlich erhebender Schriftsteller, als
daß er die alte Kunst in unser Leben einzuführen vermocht hätte.

Wie es des Dichters bedurfte, um in einer Iphigenia die
innigste Vermählung des hellenischen und deutschen Geistes
darzustellen, so bedurfte es auch eines künstlerischen Genius,
die Wiedergeburt hellenischer Kunst auf deutschem Boden aus
der Sphäre sentimentaler Sehnsucht in die Wirklichkeit zu
führen und sie in unwidersprechlichen Thaten vor Aller Augen
darzustellen. Dieser Genius war Schinkel -- und wenn die
Gedanken, die ich zur Ehre seines Andenkens an einander

Die Kunſt der Hellenen.
lenen geſtellt, aber ſie haben todte Formeln und abſtrakte Re¬
geln von ihnen zu gewinnen geſucht, und ſich dem Buchſtaben
derſelben in blindem Gehorſam unterworfen. Daraus iſt
eine Sklaverei geworden, deren Joch der aufſtrebende Volks¬
geiſt zerbrechen mußte, und die Folge davon iſt auch auf dem
Gebiete der Kunſt ein Schwanken zwiſchen Despotismus und
Anarchie geweſen. Unſer Volk hat den Geiſt der Alten, wie
wir es ſo treffend auszudrücken vermögen, ſich zu eigen ge¬
macht; er iſt unſer Saft und Blut geworden.

Dieſe Aneignung iſt aber nicht vollendet, die Einwirkung
des Alterthums keine geſchloſſene. Was wir in der Poeſie
unſers Volks als eine vollendete Thatſache nachweiſen können,
iſt im Gebiete der bildenden Kunſt kaum begonnen. Das bil¬
dende Alterthum iſt uns überhaupt ſpäter aufgeſchloſſen, als
das denkende und dichtende; die Entdeckung der Monumente
iſt erſt nach langer Friſt auf die der Schriftwerke gefolgt und
deshalb auch die Kunſtgeſchichte der am letzten entwickelte Theil
der Alterthumswiſſenſchaft. Der Mann ſelbſt, in deſſen Haupte
der Gedanke einer griechiſchen Kunſtgeſchichte geboren iſt, er¬
faßte ihn mehr als eine dämmernde Ahnung, als daß er ihn
durchzuführen im Stande geweſen wäre. Wie ferne ſtand doch
Winckelmann der Welt griechiſcher Kunſt, wie war beſonders
ihre Baukunſt ihm ein gänzlich Verſchloſſenes, und indem er
mehr ſeine eigenen Empfindungen bei der entzückten Anſchauung
der Kunſtwerke beſchrieb, als die Werke ſelbſt und ihre in¬
wohnenden Bildungsgeſetze, ſo wirkte er im Ganzen mehr als
poetiſch anregender und ſittlich erhebender Schriftſteller, als
daß er die alte Kunſt in unſer Leben einzuführen vermocht hätte.

Wie es des Dichters bedurfte, um in einer Iphigenia die
innigſte Vermählung des helleniſchen und deutſchen Geiſtes
darzuſtellen, ſo bedurfte es auch eines künſtleriſchen Genius,
die Wiedergeburt helleniſcher Kunſt auf deutſchem Boden aus
der Sphäre ſentimentaler Sehnſucht in die Wirklichkeit zu
führen und ſie in unwiderſprechlichen Thaten vor Aller Augen
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[91/0107] Die Kunſt der Hellenen. lenen geſtellt, aber ſie haben todte Formeln und abſtrakte Re¬ geln von ihnen zu gewinnen geſucht, und ſich dem Buchſtaben derſelben in blindem Gehorſam unterworfen. Daraus iſt eine Sklaverei geworden, deren Joch der aufſtrebende Volks¬ geiſt zerbrechen mußte, und die Folge davon iſt auch auf dem Gebiete der Kunſt ein Schwanken zwiſchen Despotismus und Anarchie geweſen. Unſer Volk hat den Geiſt der Alten, wie wir es ſo treffend auszudrücken vermögen, ſich zu eigen ge¬ macht; er iſt unſer Saft und Blut geworden. Dieſe Aneignung iſt aber nicht vollendet, die Einwirkung des Alterthums keine geſchloſſene. Was wir in der Poeſie unſers Volks als eine vollendete Thatſache nachweiſen können, iſt im Gebiete der bildenden Kunſt kaum begonnen. Das bil¬ dende Alterthum iſt uns überhaupt ſpäter aufgeſchloſſen, als das denkende und dichtende; die Entdeckung der Monumente iſt erſt nach langer Friſt auf die der Schriftwerke gefolgt und deshalb auch die Kunſtgeſchichte der am letzten entwickelte Theil der Alterthumswiſſenſchaft. Der Mann ſelbſt, in deſſen Haupte der Gedanke einer griechiſchen Kunſtgeſchichte geboren iſt, er¬ faßte ihn mehr als eine dämmernde Ahnung, als daß er ihn durchzuführen im Stande geweſen wäre. Wie ferne ſtand doch Winckelmann der Welt griechiſcher Kunſt, wie war beſonders ihre Baukunſt ihm ein gänzlich Verſchloſſenes, und indem er mehr ſeine eigenen Empfindungen bei der entzückten Anſchauung der Kunſtwerke beſchrieb, als die Werke ſelbſt und ihre in¬ wohnenden Bildungsgeſetze, ſo wirkte er im Ganzen mehr als poetiſch anregender und ſittlich erhebender Schriftſteller, als daß er die alte Kunſt in unſer Leben einzuführen vermocht hätte. Wie es des Dichters bedurfte, um in einer Iphigenia die innigſte Vermählung des helleniſchen und deutſchen Geiſtes darzuſtellen, ſo bedurfte es auch eines künſtleriſchen Genius, die Wiedergeburt helleniſcher Kunſt auf deutſchem Boden aus der Sphäre ſentimentaler Sehnſucht in die Wirklichkeit zu führen und ſie in unwiderſprechlichen Thaten vor Aller Augen darzuſtellen. Dieſer Genius war Schinkel — und wenn die Gedanken, die ich zur Ehre ſeines Andenkens an einander

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/107>, abgerufen am 24.11.2024.