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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
gangenheit, welche als einsame Zeugen derselben über dem
Boden stehen geblieben waren, gingen die Menschen gedanken¬
los und mit stumpfen Sinnen vorüber. Wer wollte die Größe
jener Jahrhunderte verkennen, die ihre tiefe Sehnsucht nach
dem Göttlichen nicht nur in Heerzügen und Schlachten, sondern
auch in tiefster Forschung und in unvergänglichen Denkmälern
bezeugt haben! Aber zu einer harmonischen Ausbildung der
geistigen Kräfte gelangten die Menschen nicht, und als die
Völker sich in ruhelosem Drängen erschöpft hatten, -- da öff¬
nete sich die Schuttdecke, welche die alte Welt von der neuen
trennte. Die Schriften der Alten wurden wieder gelesen, ihre
Bildwerke hervorgezogen, ihre Sprachen neu belebt und wie
Sophokles von den attischen Oelbäumen singt, daß sie, durch
Zeus beschützt, von keiner Gewalt ausgerottet werden könn¬
ten -- so trieb der verstümmelte und verschüttete Stamm
hellenischer Kunst, so wie er von Neuem mit Licht und Sonnen¬
wärme in Berührung kam, in unversiegter Lebenskraft Blätter
und Blüthen.

Man hat die Entdeckung der neuen Welt mit allem Auf¬
wande gelehrter Forschung ergründet -- wollte man eine Ge¬
schichte der Wiederentdeckung des Alterthums schreiben, man
würde erkennen, wie unter sichtbarer Leitung der Vorsehung
die Schätze nach einander aus dem Schutte der Vergessenheit
befreit sind, wie aus dem geöffneten Grabe der alten Welt
frisches Leben in die neue Zeit hinübergeströmt, wie endlich
unsere Welt durch Aneignung des Alterthums nach und nach
eine andere geworden ist. Anderer Völker Geschichte, Litteratur
und Kunst kann man sein Leben lang studiren und man bleibt
innerlich doch, was man gewesen ist; in das hellenische Kunst¬
leben kann sich Niemand mit wahrer Hingebung versenken,
ohne eine umbildende Kraft an sich zu erfahren. Darum macht
die klassische Bildung, mag sie auf dem Wege wissenschaftlicher
Forschung oder bildlicher Anschauung erworben sein, eine durch¬
greifende Scheidung in der menschlichen Gesellschaft.

So sehr diese Erfahrung für die Lebenskraft des Alter¬
thums zeugt, so könnte doch eine Einwirkung solcher Art ge¬

Die Kunſt der Hellenen.
gangenheit, welche als einſame Zeugen derſelben über dem
Boden ſtehen geblieben waren, gingen die Menſchen gedanken¬
los und mit ſtumpfen Sinnen vorüber. Wer wollte die Größe
jener Jahrhunderte verkennen, die ihre tiefe Sehnſucht nach
dem Göttlichen nicht nur in Heerzügen und Schlachten, ſondern
auch in tiefſter Forſchung und in unvergänglichen Denkmälern
bezeugt haben! Aber zu einer harmoniſchen Ausbildung der
geiſtigen Kräfte gelangten die Menſchen nicht, und als die
Völker ſich in ruheloſem Drängen erſchöpft hatten, — da öff¬
nete ſich die Schuttdecke, welche die alte Welt von der neuen
trennte. Die Schriften der Alten wurden wieder geleſen, ihre
Bildwerke hervorgezogen, ihre Sprachen neu belebt und wie
Sophokles von den attiſchen Oelbäumen ſingt, daß ſie, durch
Zeus beſchützt, von keiner Gewalt ausgerottet werden könn¬
ten — ſo trieb der verſtümmelte und verſchüttete Stamm
helleniſcher Kunſt, ſo wie er von Neuem mit Licht und Sonnen¬
wärme in Berührung kam, in unverſiegter Lebenskraft Blätter
und Blüthen.

Man hat die Entdeckung der neuen Welt mit allem Auf¬
wande gelehrter Forſchung ergründet — wollte man eine Ge¬
ſchichte der Wiederentdeckung des Alterthums ſchreiben, man
würde erkennen, wie unter ſichtbarer Leitung der Vorſehung
die Schätze nach einander aus dem Schutte der Vergeſſenheit
befreit ſind, wie aus dem geöffneten Grabe der alten Welt
friſches Leben in die neue Zeit hinübergeſtrömt, wie endlich
unſere Welt durch Aneignung des Alterthums nach und nach
eine andere geworden iſt. Anderer Völker Geſchichte, Litteratur
und Kunſt kann man ſein Leben lang ſtudiren und man bleibt
innerlich doch, was man geweſen iſt; in das helleniſche Kunſt¬
leben kann ſich Niemand mit wahrer Hingebung verſenken,
ohne eine umbildende Kraft an ſich zu erfahren. Darum macht
die klaſſiſche Bildung, mag ſie auf dem Wege wiſſenſchaftlicher
Forſchung oder bildlicher Anſchauung erworben ſein, eine durch¬
greifende Scheidung in der menſchlichen Geſellſchaft.

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[89/0105] Die Kunſt der Hellenen. gangenheit, welche als einſame Zeugen derſelben über dem Boden ſtehen geblieben waren, gingen die Menſchen gedanken¬ los und mit ſtumpfen Sinnen vorüber. Wer wollte die Größe jener Jahrhunderte verkennen, die ihre tiefe Sehnſucht nach dem Göttlichen nicht nur in Heerzügen und Schlachten, ſondern auch in tiefſter Forſchung und in unvergänglichen Denkmälern bezeugt haben! Aber zu einer harmoniſchen Ausbildung der geiſtigen Kräfte gelangten die Menſchen nicht, und als die Völker ſich in ruheloſem Drängen erſchöpft hatten, — da öff¬ nete ſich die Schuttdecke, welche die alte Welt von der neuen trennte. Die Schriften der Alten wurden wieder geleſen, ihre Bildwerke hervorgezogen, ihre Sprachen neu belebt und wie Sophokles von den attiſchen Oelbäumen ſingt, daß ſie, durch Zeus beſchützt, von keiner Gewalt ausgerottet werden könn¬ ten — ſo trieb der verſtümmelte und verſchüttete Stamm helleniſcher Kunſt, ſo wie er von Neuem mit Licht und Sonnen¬ wärme in Berührung kam, in unverſiegter Lebenskraft Blätter und Blüthen. Man hat die Entdeckung der neuen Welt mit allem Auf¬ wande gelehrter Forſchung ergründet — wollte man eine Ge¬ ſchichte der Wiederentdeckung des Alterthums ſchreiben, man würde erkennen, wie unter ſichtbarer Leitung der Vorſehung die Schätze nach einander aus dem Schutte der Vergeſſenheit befreit ſind, wie aus dem geöffneten Grabe der alten Welt friſches Leben in die neue Zeit hinübergeſtrömt, wie endlich unſere Welt durch Aneignung des Alterthums nach und nach eine andere geworden iſt. Anderer Völker Geſchichte, Litteratur und Kunſt kann man ſein Leben lang ſtudiren und man bleibt innerlich doch, was man geweſen iſt; in das helleniſche Kunſt¬ leben kann ſich Niemand mit wahrer Hingebung verſenken, ohne eine umbildende Kraft an ſich zu erfahren. Darum macht die klaſſiſche Bildung, mag ſie auf dem Wege wiſſenſchaftlicher Forſchung oder bildlicher Anſchauung erworben ſein, eine durch¬ greifende Scheidung in der menſchlichen Geſellſchaft. So ſehr dieſe Erfahrung für die Lebenskraft des Alter¬ thums zeugt, ſo könnte doch eine Einwirkung ſolcher Art ge¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/105>, abgerufen am 24.11.2024.