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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
lehre, eine Poetik für alle Zeiten genannt werden kann. Bei
der Poesie und der ihr verwandten Musik hat der Trieb
nationaler Kunst unter den meisten Völkern seine Befriedigung
gefunden, aber nicht bei den Hellenen. Es quälte sie die todte
Masse des Unorganischen, welche sie umstarrte; es drängte sie,
auch das dem Menschengeiste Fernste und Fremdeste, Stein und
Erz aus den dunkeln Tiefen der Bergspalten hervorzuziehen
und dem trägen Stoffe ein höheres Sein zu verleihen, indem
er sich unter ihrer Hand in bedeutungsvolle, zweckerfüllte,
lebenathmende Formen fügen mußte -- das ist das Reich der
bauenden und bildenden Künste, deren verschiedene, durch Stoff
und Zweck bedingte Gattungen sich in Hellas zuerst ebenbürtig
neben einander entwickelt haben. Diese Künste, welche noch
mehr, als die Poesie Gemeingut des ganzen Volks genannt
werden konnten, standen nicht in bunter Mannigfaltigkeit lose
neben einander; wir sehen sie nicht auf ihre Einzelgattung
eifersüchtig, sich eigensinnig gegen einander absperren, eine jede
im besonderen Virtuosenthume sich groß dünkend -- vielmehr
harmonisch unter einander verbunden, zu einem großartigen
und neidlosen Zusammenwirken, welches im Dienste der Gott¬
heit seinen Mittelpunkt und seine Weihe fand.

So wenig wir den großen Culturzusammenhang zwischen
Griechenland und dem Oriente läugnen, so entschieden müssen
wir doch die Kunst in diesem Sinne, in dieser reichen Ver¬
zweigung und dieser innern Einheit des Lebensprincips eine
national-griechische nennen, die von allem früher oder später
Dagewesenen wesentlich verschieden ist. Aehnliche Formen der
Plastik wie der Architektur mögen sich vereinzelt in älteren
Kunstperioden nachweisen lassen -- damit verhält es sich wie
in der Natur, welche auf unteren Entwickelungsstufen gewisse
Formen vorbildlich auftreten läßt, um sie erst auf höheren
Stufen zur vollen Bedeutung gelangen, zur vollen Wahrheit
werden zu lassen.

Bei den meisten Völkern wird in günstigen Zeitläuften
die Kunst wie ein Gegenstand des höheren Lebensgenusses
eingeführt und bleibt von Modelaunen, persönlichen Einflüssen

Die Kunſt der Hellenen.
lehre, eine Poetik für alle Zeiten genannt werden kann. Bei
der Poeſie und der ihr verwandten Muſik hat der Trieb
nationaler Kunſt unter den meiſten Völkern ſeine Befriedigung
gefunden, aber nicht bei den Hellenen. Es quälte ſie die todte
Maſſe des Unorganiſchen, welche ſie umſtarrte; es drängte ſie,
auch das dem Menſchengeiſte Fernſte und Fremdeſte, Stein und
Erz aus den dunkeln Tiefen der Bergſpalten hervorzuziehen
und dem trägen Stoffe ein höheres Sein zu verleihen, indem
er ſich unter ihrer Hand in bedeutungsvolle, zweckerfüllte,
lebenathmende Formen fügen mußte — das iſt das Reich der
bauenden und bildenden Künſte, deren verſchiedene, durch Stoff
und Zweck bedingte Gattungen ſich in Hellas zuerſt ebenbürtig
neben einander entwickelt haben. Dieſe Künſte, welche noch
mehr, als die Poeſie Gemeingut des ganzen Volks genannt
werden konnten, ſtanden nicht in bunter Mannigfaltigkeit loſe
neben einander; wir ſehen ſie nicht auf ihre Einzelgattung
eiferſüchtig, ſich eigenſinnig gegen einander abſperren, eine jede
im beſonderen Virtuoſenthume ſich groß dünkend — vielmehr
harmoniſch unter einander verbunden, zu einem großartigen
und neidloſen Zuſammenwirken, welches im Dienſte der Gott¬
heit ſeinen Mittelpunkt und ſeine Weihe fand.

So wenig wir den großen Culturzuſammenhang zwiſchen
Griechenland und dem Oriente läugnen, ſo entſchieden müſſen
wir doch die Kunſt in dieſem Sinne, in dieſer reichen Ver¬
zweigung und dieſer innern Einheit des Lebensprincips eine
national-griechiſche nennen, die von allem früher oder ſpäter
Dageweſenen weſentlich verſchieden iſt. Aehnliche Formen der
Plaſtik wie der Architektur mögen ſich vereinzelt in älteren
Kunſtperioden nachweiſen laſſen — damit verhält es ſich wie
in der Natur, welche auf unteren Entwickelungsſtufen gewiſſe
Formen vorbildlich auftreten läßt, um ſie erſt auf höheren
Stufen zur vollen Bedeutung gelangen, zur vollen Wahrheit
werden zu laſſen.

Bei den meiſten Völkern wird in günſtigen Zeitläuften
die Kunſt wie ein Gegenſtand des höheren Lebensgenuſſes
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[85/0101] Die Kunſt der Hellenen. lehre, eine Poetik für alle Zeiten genannt werden kann. Bei der Poeſie und der ihr verwandten Muſik hat der Trieb nationaler Kunſt unter den meiſten Völkern ſeine Befriedigung gefunden, aber nicht bei den Hellenen. Es quälte ſie die todte Maſſe des Unorganiſchen, welche ſie umſtarrte; es drängte ſie, auch das dem Menſchengeiſte Fernſte und Fremdeſte, Stein und Erz aus den dunkeln Tiefen der Bergſpalten hervorzuziehen und dem trägen Stoffe ein höheres Sein zu verleihen, indem er ſich unter ihrer Hand in bedeutungsvolle, zweckerfüllte, lebenathmende Formen fügen mußte — das iſt das Reich der bauenden und bildenden Künſte, deren verſchiedene, durch Stoff und Zweck bedingte Gattungen ſich in Hellas zuerſt ebenbürtig neben einander entwickelt haben. Dieſe Künſte, welche noch mehr, als die Poeſie Gemeingut des ganzen Volks genannt werden konnten, ſtanden nicht in bunter Mannigfaltigkeit loſe neben einander; wir ſehen ſie nicht auf ihre Einzelgattung eiferſüchtig, ſich eigenſinnig gegen einander abſperren, eine jede im beſonderen Virtuoſenthume ſich groß dünkend — vielmehr harmoniſch unter einander verbunden, zu einem großartigen und neidloſen Zuſammenwirken, welches im Dienſte der Gott¬ heit ſeinen Mittelpunkt und ſeine Weihe fand. So wenig wir den großen Culturzuſammenhang zwiſchen Griechenland und dem Oriente läugnen, ſo entſchieden müſſen wir doch die Kunſt in dieſem Sinne, in dieſer reichen Ver¬ zweigung und dieſer innern Einheit des Lebensprincips eine national-griechiſche nennen, die von allem früher oder ſpäter Dageweſenen weſentlich verſchieden iſt. Aehnliche Formen der Plaſtik wie der Architektur mögen ſich vereinzelt in älteren Kunſtperioden nachweiſen laſſen — damit verhält es ſich wie in der Natur, welche auf unteren Entwickelungsſtufen gewiſſe Formen vorbildlich auftreten läßt, um ſie erſt auf höheren Stufen zur vollen Bedeutung gelangen, zur vollen Wahrheit werden zu laſſen. Bei den meiſten Völkern wird in günſtigen Zeitläuften die Kunſt wie ein Gegenſtand des höheren Lebensgenuſſes eingeführt und bleibt von Modelaunen, perſönlichen Einflüſſen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/101>, abgerufen am 23.11.2024.