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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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LXIV. Betrachtung.
Volks umhersehend, suchte er die Verlaßne und
Trostlose auf, und entdeckte sie unter dem übrigen
Haufen; er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue
bemerke, daß er dadurch gerührt sey und ihr Mitlei-
den vergelten wolle. Er vergaß jetzt sein eigen Leiden,
fühlte seine großen Schmerzen nur halb, und suchte
der Trost zu verschaffen, die ihn so sehr bedurfte,
wenn sie nicht ganz von Schmerz und Jammer sollte
zu Boden gedrückt werden. Sie hatte zwar bisher
keine Reichthümer besessen; denn ihr einziger Sohn,
der sie so zärtlich liebte, hatte selbst nicht, wo er sein
Haupt hinlegte; allein es hatte ihr doch durch seine
Fürsorge nicht am nothdürftigsten Unterhalte gefehlt,
und sie hofte vermuthlich bey ihrem herannahenden
Alter noch von ihm Unterstützung. Nun aber schien
sie nicht nur der Verachtung, sondern auch dem
Mangel ausgesetzt zu seyn, da sie Niemanden hatte,
der sich ihrer annahm. Darum rief Jesus der Be-
kümmerten zu: Weib, siehe, das ist dein Sohn.*)
Er rufte sie nicht bey dem zärtlichen Mutternamen,
damit sie von seinen Feinden nicht möchte erkannt und
von ihnen verspottet werden. Mit einem Blick voll
mitleidiger Liebe, sprach er: siehe, dieser mein Freund,
mein Johannes, wird in der Zukunft, in deinem Al-
ter, in deinem verlassenen Wittwenstande, dir eben
das seyn, was ich dir bisher gewesen bin. Erkenne

ihn
*) Joh. 19, 26.
D d 4

LXIV. Betrachtung.
Volks umherſehend, ſuchte er die Verlaßne und
Troſtloſe auf, und entdeckte ſie unter dem übrigen
Haufen; er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue
bemerke, daß er dadurch gerührt ſey und ihr Mitlei-
den vergelten wolle. Er vergaß jetzt ſein eigen Leiden,
fühlte ſeine großen Schmerzen nur halb, und ſuchte
der Troſt zu verſchaffen, die ihn ſo ſehr bedurfte,
wenn ſie nicht ganz von Schmerz und Jammer ſollte
zu Boden gedrückt werden. Sie hatte zwar bisher
keine Reichthümer beſeſſen; denn ihr einziger Sohn,
der ſie ſo zärtlich liebte, hatte ſelbſt nicht, wo er ſein
Haupt hinlegte; allein es hatte ihr doch durch ſeine
Fürſorge nicht am nothdürftigſten Unterhalte gefehlt,
und ſie hofte vermuthlich bey ihrem herannahenden
Alter noch von ihm Unterſtützung. Nun aber ſchien
ſie nicht nur der Verachtung, ſondern auch dem
Mangel ausgeſetzt zu ſeyn, da ſie Niemanden hatte,
der ſich ihrer annahm. Darum rief Jeſus der Be-
kümmerten zu: Weib, ſiehe, das iſt dein Sohn.*)
Er rufte ſie nicht bey dem zärtlichen Mutternamen,
damit ſie von ſeinen Feinden nicht möchte erkannt und
von ihnen verſpottet werden. Mit einem Blick voll
mitleidiger Liebe, ſprach er: ſiehe, dieſer mein Freund,
mein Johannes, wird in der Zukunft, in deinem Al-
ter, in deinem verlaſſenen Wittwenſtande, dir eben
das ſeyn, was ich dir bisher geweſen bin. Erkenne

ihn
*) Joh. 19, 26.
D d 4
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[423/0449] LXIV. Betrachtung. Volks umherſehend, ſuchte er die Verlaßne und Troſtloſe auf, und entdeckte ſie unter dem übrigen Haufen; er gab ihr zu erkennen, daß er ihre Treue bemerke, daß er dadurch gerührt ſey und ihr Mitlei- den vergelten wolle. Er vergaß jetzt ſein eigen Leiden, fühlte ſeine großen Schmerzen nur halb, und ſuchte der Troſt zu verſchaffen, die ihn ſo ſehr bedurfte, wenn ſie nicht ganz von Schmerz und Jammer ſollte zu Boden gedrückt werden. Sie hatte zwar bisher keine Reichthümer beſeſſen; denn ihr einziger Sohn, der ſie ſo zärtlich liebte, hatte ſelbſt nicht, wo er ſein Haupt hinlegte; allein es hatte ihr doch durch ſeine Fürſorge nicht am nothdürftigſten Unterhalte gefehlt, und ſie hofte vermuthlich bey ihrem herannahenden Alter noch von ihm Unterſtützung. Nun aber ſchien ſie nicht nur der Verachtung, ſondern auch dem Mangel ausgeſetzt zu ſeyn, da ſie Niemanden hatte, der ſich ihrer annahm. Darum rief Jeſus der Be- kümmerten zu: Weib, ſiehe, das iſt dein Sohn. *) Er rufte ſie nicht bey dem zärtlichen Mutternamen, damit ſie von ſeinen Feinden nicht möchte erkannt und von ihnen verſpottet werden. Mit einem Blick voll mitleidiger Liebe, ſprach er: ſiehe, dieſer mein Freund, mein Johannes, wird in der Zukunft, in deinem Al- ter, in deinem verlaſſenen Wittwenſtande, dir eben das ſeyn, was ich dir bisher geweſen bin. Erkenne ihn *) Joh. 19, 26. D d 4

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/449>, abgerufen am 22.11.2024.