Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

LVII. Betrachtung.
er gieng in jede Hütte, so bald sie die Wohnung der
Traurigkeit und des Leidens war; überall gieng er
gern und willig hin, so bald ihn die Noth der Men-
schen dahin rufte. Oft verließ er den zahlreichsten
Haufen seiner Zuhörer; oft unterbrach er sogleich
seine göttlichen Reden, sobald es darauf ankam, ei-
ner Mutter, einem Kinde, einem Knechte oder sonst
einer armen nothleidenden Familie zu helfen. Selbst
ein Bettler, der ihn auf der Straße bey seiner letzten
Reise nach Jerusalem anredete, wurde von ihm nicht
übersehen; er brach sogleich seine Unterredung ab,
stand stille, ließ sich seine Bitten vortragen, und
half ihm auf der Stelle.*) Er war also auch der
Lehrer der Armen, der Wohlthäter und Helfer der
Geringen, und er ermahnte seine Schüler mehrmals,
daß sie ja keinen seiner geringsten Verehrer verachten
möchten, weil sie sich sonst dadurch auf die strafbar-
ste Art versündigen würden.**) So sehr lag der
arme geringe vernachläßigte Theil der Menschen dem
Erlöser am Herzen! Auch zu seinen Schülern, die
einst nach seinem Abschiede seine Stelle vertreten, und
sein großes Werk fortsetzen sollten, wählte er ganz
gemeine Leute, die sich nicht durch Stand und Ge-
burt, nicht durch Pracht und Ueberfluß, wohl aber
durch Ehrlichkeit, Frömmigkeit und Folgsamkeit aus-
zeichneten, und eben deswegen in der Folge rechte

brauch-
*) Luc. 18, 40. 42.
**) Matth. 18, 6.

LVII. Betrachtung.
er gieng in jede Hütte, ſo bald ſie die Wohnung der
Traurigkeit und des Leidens war; überall gieng er
gern und willig hin, ſo bald ihn die Noth der Men-
ſchen dahin rufte. Oft verließ er den zahlreichſten
Haufen ſeiner Zuhörer; oft unterbrach er ſogleich
ſeine göttlichen Reden, ſobald es darauf ankam, ei-
ner Mutter, einem Kinde, einem Knechte oder ſonſt
einer armen nothleidenden Familie zu helfen. Selbſt
ein Bettler, der ihn auf der Straße bey ſeiner letzten
Reiſe nach Jeruſalem anredete, wurde von ihm nicht
überſehen; er brach ſogleich ſeine Unterredung ab,
ſtand ſtille, ließ ſich ſeine Bitten vortragen, und
half ihm auf der Stelle.*) Er war alſo auch der
Lehrer der Armen, der Wohlthäter und Helfer der
Geringen, und er ermahnte ſeine Schüler mehrmals,
daß ſie ja keinen ſeiner geringſten Verehrer verachten
möchten, weil ſie ſich ſonſt dadurch auf die ſtrafbar-
ſte Art verſündigen würden.**) So ſehr lag der
arme geringe vernachläßigte Theil der Menſchen dem
Erlöſer am Herzen! Auch zu ſeinen Schülern, die
einſt nach ſeinem Abſchiede ſeine Stelle vertreten, und
ſein großes Werk fortſetzen ſollten, wählte er ganz
gemeine Leute, die ſich nicht durch Stand und Ge-
burt, nicht durch Pracht und Ueberfluß, wohl aber
durch Ehrlichkeit, Frömmigkeit und Folgſamkeit aus-
zeichneten, und eben deswegen in der Folge rechte

brauch-
*) Luc. 18, 40. 42.
**) Matth. 18, 6.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0404" n="378"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">LVII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
er gieng in jede Hütte, &#x017F;o bald &#x017F;ie die Wohnung der<lb/>
Traurigkeit und des Leidens war; überall gieng er<lb/>
gern und willig hin, &#x017F;o bald ihn die Noth der Men-<lb/>
&#x017F;chen dahin rufte. Oft verließ er den zahlreich&#x017F;ten<lb/>
Haufen &#x017F;einer Zuhörer; oft unterbrach er &#x017F;ogleich<lb/>
&#x017F;eine göttlichen Reden, &#x017F;obald es darauf ankam, ei-<lb/>
ner Mutter, einem Kinde, einem Knechte oder &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
einer armen nothleidenden Familie zu helfen. Selb&#x017F;t<lb/>
ein Bettler, der ihn auf der Straße bey &#x017F;einer letzten<lb/>
Rei&#x017F;e nach Jeru&#x017F;alem anredete, wurde von ihm nicht<lb/>
über&#x017F;ehen; er brach &#x017F;ogleich &#x017F;eine Unterredung ab,<lb/>
&#x017F;tand &#x017F;tille, ließ &#x017F;ich &#x017F;eine Bitten vortragen, und<lb/>
half ihm auf der Stelle.<note place="foot" n="*)">Luc. 18, 40. 42.</note> Er war al&#x017F;o auch der<lb/>
Lehrer der Armen, der Wohlthäter und Helfer der<lb/>
Geringen, und er ermahnte &#x017F;eine Schüler mehrmals,<lb/>
daß &#x017F;ie ja keinen &#x017F;einer gering&#x017F;ten Verehrer verachten<lb/>
möchten, weil &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t dadurch auf die &#x017F;trafbar-<lb/>
&#x017F;te Art ver&#x017F;ündigen würden.<note place="foot" n="**)">Matth. 18, 6.</note> So &#x017F;ehr lag der<lb/>
arme geringe vernachläßigte Theil der Men&#x017F;chen dem<lb/>
Erlö&#x017F;er am Herzen! Auch zu &#x017F;einen Schülern, die<lb/>
ein&#x017F;t nach &#x017F;einem Ab&#x017F;chiede &#x017F;eine Stelle vertreten, und<lb/>
&#x017F;ein großes Werk fort&#x017F;etzen &#x017F;ollten, wählte er ganz<lb/>
gemeine Leute, die &#x017F;ich nicht durch Stand und Ge-<lb/>
burt, nicht durch Pracht und Ueberfluß, wohl aber<lb/>
durch Ehrlichkeit, Frömmigkeit und Folg&#x017F;amkeit aus-<lb/>
zeichneten, und eben deswegen in der Folge rechte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">brauch-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[378/0404] LVII. Betrachtung. er gieng in jede Hütte, ſo bald ſie die Wohnung der Traurigkeit und des Leidens war; überall gieng er gern und willig hin, ſo bald ihn die Noth der Men- ſchen dahin rufte. Oft verließ er den zahlreichſten Haufen ſeiner Zuhörer; oft unterbrach er ſogleich ſeine göttlichen Reden, ſobald es darauf ankam, ei- ner Mutter, einem Kinde, einem Knechte oder ſonſt einer armen nothleidenden Familie zu helfen. Selbſt ein Bettler, der ihn auf der Straße bey ſeiner letzten Reiſe nach Jeruſalem anredete, wurde von ihm nicht überſehen; er brach ſogleich ſeine Unterredung ab, ſtand ſtille, ließ ſich ſeine Bitten vortragen, und half ihm auf der Stelle. *) Er war alſo auch der Lehrer der Armen, der Wohlthäter und Helfer der Geringen, und er ermahnte ſeine Schüler mehrmals, daß ſie ja keinen ſeiner geringſten Verehrer verachten möchten, weil ſie ſich ſonſt dadurch auf die ſtrafbar- ſte Art verſündigen würden. **) So ſehr lag der arme geringe vernachläßigte Theil der Menſchen dem Erlöſer am Herzen! Auch zu ſeinen Schülern, die einſt nach ſeinem Abſchiede ſeine Stelle vertreten, und ſein großes Werk fortſetzen ſollten, wählte er ganz gemeine Leute, die ſich nicht durch Stand und Ge- burt, nicht durch Pracht und Ueberfluß, wohl aber durch Ehrlichkeit, Frömmigkeit und Folgſamkeit aus- zeichneten, und eben deswegen in der Folge rechte brauch- *) Luc. 18, 40. 42. **) Matth. 18, 6.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/404
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/404>, abgerufen am 16.07.2024.