Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

LVI. Betrachtung.
sammlen, sind sie gegen die Stimme des Elends
taub, verschließen sie ihr Herz dem Mitleiden und
verachten sie jeden mit Uebermuth, der nicht ihres
Geschlechts und ihres Standes ist: so verdienen sie
freylich keine Achtung weiter, als die ich ihnen schlech-
terdings erweisen muß, ohne den Wohlstand zu ver-
letzen. Aber sind die Großen und Reichen der Erde
bey ihren äußern Vorzügen zugleich bescheiden und
herablassend, sind sie Wohlthäter ihrer Brüder, wen-
den sie ihr Ansehn und ihren Ueberfluß dazu an, um
recht viel Gutes zu stiften: so will ich sie doppelt eh-
ren und schätzen, und mit willigem Herzen ihnen jedes
Opfer der Ergebenheit darbringen. Aengstlich will
ich indessen nie nach ihrer Gunst streben; am wenig-
sten will ich sie durch niedrige Schmeicheley und durch
entehrende Kunstgriffe zu erschleichen suchen. Jede
unanständige Zumuthung, die sie mir machen, will
ich mit edlem Stolze zurückweisen, und weder ihre
Drohungen noch ihre Versprechungen sollen mich
blenden, etwas zu thun oder zu reden, was der Tu-
gend und meinem Gewissen widerspricht. Jmmer
will ich es mir vorsagen, die wahre Größe des Men-
schen beruht nicht auf dem Range und Titel, den er
behauptet, nicht auf dem Kleide, das er trägt, nicht
in dem Aufwande, den er macht, sondern die wahre
Größe des Menschen thront in der Seele, in der
Güte des Herzens, in der Erweisung der Gottes-

und
A a 3

LVI. Betrachtung.
ſammlen, ſind ſie gegen die Stimme des Elends
taub, verſchließen ſie ihr Herz dem Mitleiden und
verachten ſie jeden mit Uebermuth, der nicht ihres
Geſchlechts und ihres Standes iſt: ſo verdienen ſie
freylich keine Achtung weiter, als die ich ihnen ſchlech-
terdings erweiſen muß, ohne den Wohlſtand zu ver-
letzen. Aber ſind die Großen und Reichen der Erde
bey ihren äußern Vorzügen zugleich beſcheiden und
herablaſſend, ſind ſie Wohlthäter ihrer Brüder, wen-
den ſie ihr Anſehn und ihren Ueberfluß dazu an, um
recht viel Gutes zu ſtiften: ſo will ich ſie doppelt eh-
ren und ſchätzen, und mit willigem Herzen ihnen jedes
Opfer der Ergebenheit darbringen. Aengſtlich will
ich indeſſen nie nach ihrer Gunſt ſtreben; am wenig-
ſten will ich ſie durch niedrige Schmeicheley und durch
entehrende Kunſtgriffe zu erſchleichen ſuchen. Jede
unanſtändige Zumuthung, die ſie mir machen, will
ich mit edlem Stolze zurückweiſen, und weder ihre
Drohungen noch ihre Verſprechungen ſollen mich
blenden, etwas zu thun oder zu reden, was der Tu-
gend und meinem Gewiſſen widerſpricht. Jmmer
will ich es mir vorſagen, die wahre Größe des Men-
ſchen beruht nicht auf dem Range und Titel, den er
behauptet, nicht auf dem Kleide, das er trägt, nicht
in dem Aufwande, den er macht, ſondern die wahre
Größe des Menſchen thront in der Seele, in der
Güte des Herzens, in der Erweiſung der Gottes-

und
A a 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0399" n="373"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">LVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
&#x017F;ammlen, &#x017F;ind &#x017F;ie gegen die Stimme des Elends<lb/>
taub, ver&#x017F;chließen &#x017F;ie ihr Herz dem Mitleiden und<lb/>
verachten &#x017F;ie jeden mit Uebermuth, der nicht ihres<lb/>
Ge&#x017F;chlechts und ihres Standes i&#x017F;t: &#x017F;o verdienen &#x017F;ie<lb/>
freylich keine Achtung weiter, als die ich ihnen &#x017F;chlech-<lb/>
terdings erwei&#x017F;en muß, ohne den Wohl&#x017F;tand zu ver-<lb/>
letzen. Aber &#x017F;ind die Großen und Reichen der Erde<lb/>
bey ihren äußern Vorzügen zugleich be&#x017F;cheiden und<lb/>
herabla&#x017F;&#x017F;end, &#x017F;ind &#x017F;ie Wohlthäter ihrer Brüder, wen-<lb/>
den &#x017F;ie ihr An&#x017F;ehn und ihren Ueberfluß dazu an, um<lb/>
recht viel Gutes zu &#x017F;tiften: &#x017F;o will ich &#x017F;ie doppelt eh-<lb/>
ren und &#x017F;chätzen, und mit willigem Herzen ihnen jedes<lb/>
Opfer der Ergebenheit darbringen. Aeng&#x017F;tlich will<lb/>
ich inde&#x017F;&#x017F;en nie nach ihrer Gun&#x017F;t &#x017F;treben; am wenig-<lb/>
&#x017F;ten will ich &#x017F;ie durch niedrige Schmeicheley und durch<lb/>
entehrende Kun&#x017F;tgriffe zu er&#x017F;chleichen &#x017F;uchen. Jede<lb/>
unan&#x017F;tändige Zumuthung, die &#x017F;ie mir machen, will<lb/>
ich mit edlem Stolze zurückwei&#x017F;en, und weder ihre<lb/>
Drohungen noch ihre Ver&#x017F;prechungen &#x017F;ollen mich<lb/>
blenden, etwas zu thun oder zu reden, was der Tu-<lb/>
gend und meinem Gewi&#x017F;&#x017F;en wider&#x017F;pricht. Jmmer<lb/>
will ich es mir vor&#x017F;agen, die wahre Größe des Men-<lb/>
&#x017F;chen beruht nicht auf dem Range und Titel, den er<lb/>
behauptet, nicht auf dem Kleide, das er trägt, nicht<lb/>
in dem Aufwande, den er macht, &#x017F;ondern die wahre<lb/>
Größe des Men&#x017F;chen thront in der Seele, in der<lb/>
Güte des Herzens, in der Erwei&#x017F;ung der Gottes-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a 3</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[373/0399] LVI. Betrachtung. ſammlen, ſind ſie gegen die Stimme des Elends taub, verſchließen ſie ihr Herz dem Mitleiden und verachten ſie jeden mit Uebermuth, der nicht ihres Geſchlechts und ihres Standes iſt: ſo verdienen ſie freylich keine Achtung weiter, als die ich ihnen ſchlech- terdings erweiſen muß, ohne den Wohlſtand zu ver- letzen. Aber ſind die Großen und Reichen der Erde bey ihren äußern Vorzügen zugleich beſcheiden und herablaſſend, ſind ſie Wohlthäter ihrer Brüder, wen- den ſie ihr Anſehn und ihren Ueberfluß dazu an, um recht viel Gutes zu ſtiften: ſo will ich ſie doppelt eh- ren und ſchätzen, und mit willigem Herzen ihnen jedes Opfer der Ergebenheit darbringen. Aengſtlich will ich indeſſen nie nach ihrer Gunſt ſtreben; am wenig- ſten will ich ſie durch niedrige Schmeicheley und durch entehrende Kunſtgriffe zu erſchleichen ſuchen. Jede unanſtändige Zumuthung, die ſie mir machen, will ich mit edlem Stolze zurückweiſen, und weder ihre Drohungen noch ihre Verſprechungen ſollen mich blenden, etwas zu thun oder zu reden, was der Tu- gend und meinem Gewiſſen widerſpricht. Jmmer will ich es mir vorſagen, die wahre Größe des Men- ſchen beruht nicht auf dem Range und Titel, den er behauptet, nicht auf dem Kleide, das er trägt, nicht in dem Aufwande, den er macht, ſondern die wahre Größe des Menſchen thront in der Seele, in der Güte des Herzens, in der Erweiſung der Gottes- und A a 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/399
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/399>, abgerufen am 23.11.2024.