Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LV. Betrachtung. Gastmal,*) und wohnte demselben in der kleinenStadt Cana bey einem seiner Anverwandten bey. Hier setzte er sich durch sein erstes Wunder bey den Seinigen vorzüglich in Ansehn, weil ihn diese bisher nur für einen gewöhnlichen Menschen hielten, aber jetzo sich sehr wunderten, da er sein bisheriges Privat- leben verließ, als Lehrer auftrat und sich von Schü- lern begleiten ließ. Ohne also die Würde seines Am- tes im geringsten zu verletzen, nahm er an den ge- wöhnlichen Vergnügungen, in so ferne sie mit seinem Hauptzwecke bestehen konnten, Antheil, erhöhte und veredelte sie durch seine Gegenwart. Nie störte er im bürgerlichen Leben sinnliche Freuden durch ein finstres mürrisches Betragen, denn er wollte nicht niederge- schlagne und traurige, sondern vergnügte fröliche Menschen bilden. Zwar tadelte man ihn und seine Schüler wegen seiner freyern Lebensart; allein er wußte sich auch hier mit Anstand und Würde zu ver- theidigen. Er zeigte seinen Gegnern das Kindische in ihren Urtheilen, indem er sagte: Johannes ist kom- men, aß nicht und trank nicht, nämlich wie andre Menschen, so sagen sie: er hat den Teufel, oder er ist wahnsinnig, melancholisch. Des Menschen Sohn ist kommen, isset und trinket, mit jedermann, auch mit Zöllnern und Sündern, so sagen sie: siehe, wie ist der Mensch ein Fresser, und ein Weinsäufer, der Zöllner und Sünder Geselle.**) Gleichsam als wollte er *) Joh. 2, 1. 11. **) Matth. 11, 18. 19.
LV. Betrachtung. Gaſtmal,*) und wohnte demſelben in der kleinenStadt Cana bey einem ſeiner Anverwandten bey. Hier ſetzte er ſich durch ſein erſtes Wunder bey den Seinigen vorzüglich in Anſehn, weil ihn dieſe bisher nur für einen gewöhnlichen Menſchen hielten, aber jetzo ſich ſehr wunderten, da er ſein bisheriges Privat- leben verließ, als Lehrer auftrat und ſich von Schü- lern begleiten ließ. Ohne alſo die Würde ſeines Am- tes im geringſten zu verletzen, nahm er an den ge- wöhnlichen Vergnügungen, in ſo ferne ſie mit ſeinem Hauptzwecke beſtehen konnten, Antheil, erhöhte und veredelte ſie durch ſeine Gegenwart. Nie ſtörte er im bürgerlichen Leben ſinnliche Freuden durch ein finſtres mürriſches Betragen, denn er wollte nicht niederge- ſchlagne und traurige, ſondern vergnügte fröliche Menſchen bilden. Zwar tadelte man ihn und ſeine Schüler wegen ſeiner freyern Lebensart; allein er wußte ſich auch hier mit Anſtand und Würde zu ver- theidigen. Er zeigte ſeinen Gegnern das Kindiſche in ihren Urtheilen, indem er ſagte: Johannes iſt kom- men, aß nicht und trank nicht, nämlich wie andre Menſchen, ſo ſagen ſie: er hat den Teufel, oder er iſt wahnſinnig, melancholiſch. Des Menſchen Sohn iſt kommen, iſſet und trinket, mit jedermann, auch mit Zöllnern und Sündern, ſo ſagen ſie: ſiehe, wie iſt der Menſch ein Freſſer, und ein Weinſäufer, der Zöllner und Sünder Geſelle.**) Gleichſam als wollte er *) Joh. 2, 1. 11. **) Matth. 11, 18. 19.
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LV. Betrachtung.
Gaſtmal, *) und wohnte demſelben in der kleinen
Stadt Cana bey einem ſeiner Anverwandten bey.
Hier ſetzte er ſich durch ſein erſtes Wunder bey den
Seinigen vorzüglich in Anſehn, weil ihn dieſe bisher
nur für einen gewöhnlichen Menſchen hielten, aber
jetzo ſich ſehr wunderten, da er ſein bisheriges Privat-
leben verließ, als Lehrer auftrat und ſich von Schü-
lern begleiten ließ. Ohne alſo die Würde ſeines Am-
tes im geringſten zu verletzen, nahm er an den ge-
wöhnlichen Vergnügungen, in ſo ferne ſie mit ſeinem
Hauptzwecke beſtehen konnten, Antheil, erhöhte und
veredelte ſie durch ſeine Gegenwart. Nie ſtörte er im
bürgerlichen Leben ſinnliche Freuden durch ein finſtres
mürriſches Betragen, denn er wollte nicht niederge-
ſchlagne und traurige, ſondern vergnügte fröliche
Menſchen bilden. Zwar tadelte man ihn und ſeine
Schüler wegen ſeiner freyern Lebensart; allein er
wußte ſich auch hier mit Anſtand und Würde zu ver-
theidigen. Er zeigte ſeinen Gegnern das Kindiſche in
ihren Urtheilen, indem er ſagte: Johannes iſt kom-
men, aß nicht und trank nicht, nämlich wie andre
Menſchen, ſo ſagen ſie: er hat den Teufel, oder er
iſt wahnſinnig, melancholiſch. Des Menſchen Sohn
iſt kommen, iſſet und trinket, mit jedermann, auch
mit Zöllnern und Sündern, ſo ſagen ſie: ſiehe, wie
iſt der Menſch ein Freſſer, und ein Weinſäufer, der
Zöllner und Sünder Geſelle. **) Gleichſam als wollte
er
*) Joh. 2, 1. 11.
**) Matth. 11, 18. 19.
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