Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LIV. Betrachtung. bar ist, so mußt du doch nie die Pflichten deinesStandes und Berufs darüber verabsäumen. Wur- de doch Jesus auch mitten aus den heiligen Uebungen der Andacht durch die Macht der Menschenliebe her- ausgerissen, wenn er seine Jünger oder andre leiden sahe. Denn Gutes thun ist allemal rühmlicher, als Gutes denken, und gemeinnützige Geschäftig- keit ist besser, als die edelste Ruhe, die dir die Ein- samkeit gewährt. Auch ist es ausgemacht, daß eine allzu[l]ange Einsamkeit der menschlichen Seele oft in eben dem Grade schädlich werden kann, als ein allzu- häufiger Umgang, zumal bey solchen Personen, die einen Hang zu schwärmerischen Vorstellungen haben, und deren Einbildungskraft leicht ausschweift. Sie nähren da ihre Unzufriedenheit und ihr Misvergnü- gen über die Welt und ihre eigenen Schicksale, und hindern sich dadurch nicht selten an allem frohen Ge- nusse des Lebens, an aller wahren Zufriedenheit. Gehe also auch hier die goldne Mittelstraße, o deinen
LIV. Betrachtung. bar iſt, ſo mußt du doch nie die Pflichten deinesStandes und Berufs darüber verabſäumen. Wur- de doch Jeſus auch mitten aus den heiligen Uebungen der Andacht durch die Macht der Menſchenliebe her- ausgeriſſen, wenn er ſeine Jünger oder andre leiden ſahe. Denn Gutes thun iſt allemal rühmlicher, als Gutes denken, und gemeinnützige Geſchäftig- keit iſt beſſer, als die edelſte Ruhe, die dir die Ein- ſamkeit gewährt. Auch iſt es ausgemacht, daß eine allzu[l]ange Einſamkeit der menſchlichen Seele oft in eben dem Grade ſchädlich werden kann, als ein allzu- häufiger Umgang, zumal bey ſolchen Perſonen, die einen Hang zu ſchwärmeriſchen Vorſtellungen haben, und deren Einbildungskraft leicht ausſchweift. Sie nähren da ihre Unzufriedenheit und ihr Misvergnü- gen über die Welt und ihre eigenen Schickſale, und hindern ſich dadurch nicht ſelten an allem frohen Ge- nuſſe des Lebens, an aller wahren Zufriedenheit. Gehe alſo auch hier die goldne Mittelſtraße, o deinen
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LIV. Betrachtung.
bar iſt, ſo mußt du doch nie die Pflichten deines
Standes und Berufs darüber verabſäumen. Wur-
de doch Jeſus auch mitten aus den heiligen Uebungen
der Andacht durch die Macht der Menſchenliebe her-
ausgeriſſen, wenn er ſeine Jünger oder andre leiden
ſahe. Denn Gutes thun iſt allemal rühmlicher,
als Gutes denken, und gemeinnützige Geſchäftig-
keit iſt beſſer, als die edelſte Ruhe, die dir die Ein-
ſamkeit gewährt. Auch iſt es ausgemacht, daß eine
allzulange Einſamkeit der menſchlichen Seele oft in
eben dem Grade ſchädlich werden kann, als ein allzu-
häufiger Umgang, zumal bey ſolchen Perſonen, die
einen Hang zu ſchwärmeriſchen Vorſtellungen haben,
und deren Einbildungskraft leicht ausſchweift. Sie
nähren da ihre Unzufriedenheit und ihr Misvergnü-
gen über die Welt und ihre eigenen Schickſale, und
hindern ſich dadurch nicht ſelten an allem frohen Ge-
nuſſe des Lebens, an aller wahren Zufriedenheit.
Gehe alſo auch hier die goldne Mittelſtraße, o
Chriſt! und bedenke was zu deinem Beſten dienet.
Verlaß die Einſamkeit nie ohne fromme gute Ent-
ſchließungen, nie ohne neue Antriebe zur edelſten Ge-
ſchäftigkeit, wozu du täglich Veranlaſſung haſt, wenn
du ſonſt recht thätig ſeyn und recht viel Gutes ſtiften
willſt. Haſt du aber dein Tagewerk vollendet, haſt
du mit Anſtrengung deiner Kräfte gearbeitet; nun ſo
kehre zur Einſamkeit zurück, ſie wird dir Ruhe für
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