Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLVI. Betrachtung. men nennen, willst du, daß Gott mit dir Geduldund Nachsicht haben soll, willst du ohne innere Be- schämung und ohne Widerspruch deines Herzens täg- lich beten: vergieb uns unsere Schuld, wie wir ver- geben unsern Schuldigern; o! so mußt du deinen Beleidiger nicht wieder kränken, beschimpfen und ver- folgen, wie er an dir gethan hat; du mußt die ange- thanen Beleidigungen vergessen und vergeben; du mußt, wenn du auch die Gelegenheit in Händen hast, dich nicht rächen, sonden vielmehr das Böse mit Gu- tem überwinden. Siehest du deinen Feind in Man- gel und Dürftigkeit, so brich ihm dein Brod; er- blickst du ihn in Lebensgefahr, so reiche ihm deine Hand zur Rettung dar; hörest du, daß er von an- dern verläumdet wird, so vertheidige ihn, und laß ihm Gerechtigkeit wiederfahren; und du wirst, wie die Bibel sagt, feurige Kohlen auf sein Haupt samm- len;*) das heißt, deine Großmuth wird ihn rühren und zum Nachdenken bringen, und es wird dir rühm- lich und vortheilhaft seyn, einen Feind gewonnen zu haben. Trift deinen Gegner sonst ein Unglück und Elend, so hüte dich vor jener unedlen Schadenfreude, die das Kennzeichen schlechter roher Menschen ist, be- daure ihn vielmehr, und denke stets an jenen Ausspruch: freue dich des Falls deines Feindes nicht, und dein Herz sey nicht froh über seinem Unglücke.**) Da- durch *) Röm. 12, 20. **) Sprüchw. Sal. 24, 17.
XLVI. Betrachtung. men nennen, willſt du, daß Gott mit dir Geduldund Nachſicht haben ſoll, willſt du ohne innere Be- ſchämung und ohne Widerſpruch deines Herzens täg- lich beten: vergieb uns unſere Schuld, wie wir ver- geben unſern Schuldigern; o! ſo mußt du deinen Beleidiger nicht wieder kränken, beſchimpfen und ver- folgen, wie er an dir gethan hat; du mußt die ange- thanen Beleidigungen vergeſſen und vergeben; du mußt, wenn du auch die Gelegenheit in Händen haſt, dich nicht rächen, ſonden vielmehr das Böſe mit Gu- tem überwinden. Sieheſt du deinen Feind in Man- gel und Dürftigkeit, ſo brich ihm dein Brod; er- blickſt du ihn in Lebensgefahr, ſo reiche ihm deine Hand zur Rettung dar; höreſt du, daß er von an- dern verläumdet wird, ſo vertheidige ihn, und laß ihm Gerechtigkeit wiederfahren; und du wirſt, wie die Bibel ſagt, feurige Kohlen auf ſein Haupt ſamm- len;*) das heißt, deine Großmuth wird ihn rühren und zum Nachdenken bringen, und es wird dir rühm- lich und vortheilhaft ſeyn, einen Feind gewonnen zu haben. Trift deinen Gegner ſonſt ein Unglück und Elend, ſo hüte dich vor jener unedlen Schadenfreude, die das Kennzeichen ſchlechter roher Menſchen iſt, be- daure ihn vielmehr, und denke ſtets an jenen Ausſpruch: freue dich des Falls deines Feindes nicht, und dein Herz ſey nicht froh über ſeinem Unglücke.**) Da- durch *) Röm. 12, 20. **) Sprüchw. Sal. 24, 17.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0328" n="302"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XLVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> men nennen, willſt du, daß Gott mit dir Geduld<lb/> und Nachſicht haben ſoll, willſt du ohne innere Be-<lb/> ſchämung und ohne Widerſpruch deines Herzens täg-<lb/> lich beten: vergieb uns unſere Schuld, wie wir ver-<lb/> geben unſern Schuldigern; o! ſo mußt du deinen<lb/> Beleidiger nicht wieder kränken, beſchimpfen und ver-<lb/> folgen, wie er an dir gethan hat; du mußt die ange-<lb/> thanen Beleidigungen vergeſſen und vergeben; du<lb/> mußt, wenn du auch die Gelegenheit in Händen haſt,<lb/> dich nicht rächen, ſonden vielmehr das Böſe mit Gu-<lb/> tem überwinden. Sieheſt du deinen Feind in Man-<lb/> gel und Dürftigkeit, ſo brich ihm dein Brod; er-<lb/> blickſt du ihn in Lebensgefahr, ſo reiche ihm deine<lb/> Hand zur Rettung dar; höreſt du, daß er von an-<lb/> dern verläumdet wird, ſo vertheidige ihn, und laß<lb/> ihm Gerechtigkeit wiederfahren; und du wirſt, wie<lb/> die Bibel ſagt, <hi rendition="#fr">feurige Kohlen auf ſein Haupt ſamm-<lb/> len;</hi><note place="foot" n="*)">Röm. 12, 20.</note> das heißt, deine Großmuth wird ihn rühren<lb/> und zum Nachdenken bringen, und es wird dir rühm-<lb/> lich und vortheilhaft ſeyn, einen Feind gewonnen zu<lb/> haben. Trift deinen Gegner ſonſt ein Unglück und<lb/> Elend, ſo hüte dich vor jener unedlen Schadenfreude,<lb/> die das Kennzeichen ſchlechter roher Menſchen iſt, be-<lb/> daure ihn vielmehr, und denke ſtets an jenen Ausſpruch:<lb/><hi rendition="#fr">freue dich des Falls deines Feindes nicht, und dein<lb/> Herz ſey nicht froh über ſeinem Unglücke.</hi><note place="foot" n="**)">Sprüchw. Sal. 24, 17.</note> Da-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [302/0328]
XLVI. Betrachtung.
men nennen, willſt du, daß Gott mit dir Geduld
und Nachſicht haben ſoll, willſt du ohne innere Be-
ſchämung und ohne Widerſpruch deines Herzens täg-
lich beten: vergieb uns unſere Schuld, wie wir ver-
geben unſern Schuldigern; o! ſo mußt du deinen
Beleidiger nicht wieder kränken, beſchimpfen und ver-
folgen, wie er an dir gethan hat; du mußt die ange-
thanen Beleidigungen vergeſſen und vergeben; du
mußt, wenn du auch die Gelegenheit in Händen haſt,
dich nicht rächen, ſonden vielmehr das Böſe mit Gu-
tem überwinden. Sieheſt du deinen Feind in Man-
gel und Dürftigkeit, ſo brich ihm dein Brod; er-
blickſt du ihn in Lebensgefahr, ſo reiche ihm deine
Hand zur Rettung dar; höreſt du, daß er von an-
dern verläumdet wird, ſo vertheidige ihn, und laß
ihm Gerechtigkeit wiederfahren; und du wirſt, wie
die Bibel ſagt, feurige Kohlen auf ſein Haupt ſamm-
len; *) das heißt, deine Großmuth wird ihn rühren
und zum Nachdenken bringen, und es wird dir rühm-
lich und vortheilhaft ſeyn, einen Feind gewonnen zu
haben. Trift deinen Gegner ſonſt ein Unglück und
Elend, ſo hüte dich vor jener unedlen Schadenfreude,
die das Kennzeichen ſchlechter roher Menſchen iſt, be-
daure ihn vielmehr, und denke ſtets an jenen Ausſpruch:
freue dich des Falls deines Feindes nicht, und dein
Herz ſey nicht froh über ſeinem Unglücke. **) Da-
durch
*) Röm. 12, 20.
**) Sprüchw. Sal. 24, 17.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |