Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLVI. Betrachtung. gen Denkungsart, möchte ich auch etwas haben!Denn durch diese Fürbitte übte er selbst das aus, was er seinen Schülern einschärfte: segnet, die euch flu- chen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seyd eures Vaters im Himmel.*) Und an- statt daß wir Menschen immer geneigt sind, das Be- tragen unserer Feinde von einer argwöhnischen und schlimmen Seite zu betrachten, und ihre Thaten uns noch weit schwärzer vorzustellen, als sie wirklich sind; so sucht er, der großmüthigste Menschenfreund, alles zur Entschuldigung hervor, was er kann: sie wissen nicht, was sie thun. Verschuldete Unwissenheit war es freylich zum Theil; aber ihre Versündigung rührte doch auch daher, daß sie wirklich die Größe seiner Person nicht genug kannten, indem sie nicht einsahen, daß sie in seiner Person mehr als einen blo- ßen Menschen, daß sie selbst den erhabenen Sohn Gottes, den Erlöser und Seligmacher der Welt lästerten und verfolgten. Dies alles hielt der groß- müthige Menschenfreund seinem himmlischen Vater, als einen Bewegungsgrund, zur Verschonung dar. Er wünscht sehnlich, daß sie alle möchten gerettet werden; und wenn sie in der Folge nicht alle Ver- zeihung erhielten, so lag die Schuld nicht an der Kraft der Fürbitte Jesu, sondern an ihnen selbst, weil sie sich nicht besserten, ob sie gleich aufs kräftigste dazu ermah- *) Matth. 5, 44.
XLVI. Betrachtung. gen Denkungsart, möchte ich auch etwas haben!Denn durch dieſe Fürbitte übte er ſelbſt das aus, was er ſeinen Schülern einſchärfte: ſegnet, die euch flu- chen; thut wohl denen, die euch haſſen; bittet für die, ſo euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder ſeyd eures Vaters im Himmel.*) Und an- ſtatt daß wir Menſchen immer geneigt ſind, das Be- tragen unſerer Feinde von einer argwöhniſchen und ſchlimmen Seite zu betrachten, und ihre Thaten uns noch weit ſchwärzer vorzuſtellen, als ſie wirklich ſind; ſo ſucht er, der großmüthigſte Menſchenfreund, alles zur Entſchuldigung hervor, was er kann: ſie wiſſen nicht, was ſie thun. Verſchuldete Unwiſſenheit war es freylich zum Theil; aber ihre Verſündigung rührte doch auch daher, daß ſie wirklich die Größe ſeiner Perſon nicht genug kannten, indem ſie nicht einſahen, daß ſie in ſeiner Perſon mehr als einen blo- ßen Menſchen, daß ſie ſelbſt den erhabenen Sohn Gottes, den Erlöſer und Seligmacher der Welt läſterten und verfolgten. Dies alles hielt der groß- müthige Menſchenfreund ſeinem himmliſchen Vater, als einen Bewegungsgrund, zur Verſchonung dar. Er wünſcht ſehnlich, daß ſie alle möchten gerettet werden; und wenn ſie in der Folge nicht alle Ver- zeihung erhielten, ſo lag die Schuld nicht an der Kraft der Fürbitte Jeſu, ſondern an ihnen ſelbſt, weil ſie ſich nicht beſſerten, ob ſie gleich aufs kräftigſte dazu ermah- *) Matth. 5, 44.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0326" n="300"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XLVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> gen Denkungsart, möchte ich auch etwas haben!<lb/> Denn durch dieſe Fürbitte übte er ſelbſt das aus, was<lb/> er ſeinen Schülern einſchärfte: <hi rendition="#fr">ſegnet, die euch flu-<lb/> chen; thut wohl denen, die euch haſſen; bittet für<lb/> die, ſo euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr<lb/> Kinder ſeyd eures Vaters im Himmel.</hi><note place="foot" n="*)">Matth. 5, 44.</note> Und an-<lb/> ſtatt daß wir Menſchen immer geneigt ſind, das Be-<lb/> tragen unſerer Feinde von einer argwöhniſchen und<lb/> ſchlimmen Seite zu betrachten, und ihre Thaten uns<lb/> noch weit ſchwärzer vorzuſtellen, als ſie wirklich ſind;<lb/> ſo ſucht er, der großmüthigſte Menſchenfreund, alles<lb/> zur Entſchuldigung hervor, was er kann: <hi rendition="#fr">ſie wiſſen<lb/> nicht, was ſie thun.</hi> Verſchuldete Unwiſſenheit<lb/> war es freylich zum Theil; aber ihre Verſündigung<lb/> rührte doch auch daher, daß ſie wirklich die Größe<lb/> ſeiner Perſon nicht genug kannten, indem ſie nicht<lb/> einſahen, daß ſie in ſeiner Perſon mehr als einen blo-<lb/> ßen Menſchen, daß ſie ſelbſt <hi rendition="#fr">den erhabenen Sohn<lb/> Gottes, den Erlöſer und Seligmacher der Welt</hi><lb/> läſterten und verfolgten. Dies alles hielt der groß-<lb/> müthige Menſchenfreund ſeinem himmliſchen Vater,<lb/> als einen Bewegungsgrund, zur Verſchonung dar.<lb/> Er wünſcht ſehnlich, daß ſie alle möchten gerettet<lb/> werden; und wenn ſie in der Folge nicht alle Ver-<lb/> zeihung erhielten, ſo lag die Schuld nicht an der Kraft<lb/> der Fürbitte Jeſu, ſondern an ihnen ſelbſt, weil ſie<lb/> ſich nicht beſſerten, ob ſie gleich aufs kräftigſte dazu<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ermah-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [300/0326]
XLVI. Betrachtung.
gen Denkungsart, möchte ich auch etwas haben!
Denn durch dieſe Fürbitte übte er ſelbſt das aus, was
er ſeinen Schülern einſchärfte: ſegnet, die euch flu-
chen; thut wohl denen, die euch haſſen; bittet für
die, ſo euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr
Kinder ſeyd eures Vaters im Himmel. *) Und an-
ſtatt daß wir Menſchen immer geneigt ſind, das Be-
tragen unſerer Feinde von einer argwöhniſchen und
ſchlimmen Seite zu betrachten, und ihre Thaten uns
noch weit ſchwärzer vorzuſtellen, als ſie wirklich ſind;
ſo ſucht er, der großmüthigſte Menſchenfreund, alles
zur Entſchuldigung hervor, was er kann: ſie wiſſen
nicht, was ſie thun. Verſchuldete Unwiſſenheit
war es freylich zum Theil; aber ihre Verſündigung
rührte doch auch daher, daß ſie wirklich die Größe
ſeiner Perſon nicht genug kannten, indem ſie nicht
einſahen, daß ſie in ſeiner Perſon mehr als einen blo-
ßen Menſchen, daß ſie ſelbſt den erhabenen Sohn
Gottes, den Erlöſer und Seligmacher der Welt
läſterten und verfolgten. Dies alles hielt der groß-
müthige Menſchenfreund ſeinem himmliſchen Vater,
als einen Bewegungsgrund, zur Verſchonung dar.
Er wünſcht ſehnlich, daß ſie alle möchten gerettet
werden; und wenn ſie in der Folge nicht alle Ver-
zeihung erhielten, ſo lag die Schuld nicht an der Kraft
der Fürbitte Jeſu, ſondern an ihnen ſelbſt, weil ſie
ſich nicht beſſerten, ob ſie gleich aufs kräftigſte dazu
ermah-
*) Matth. 5, 44.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |