Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XLVI. Betrachtung.
Erden gelebt, der mit ihm nur einigermaßen in Ver-
gleichung gesetzt werden könnte. Vergleichet man
nun mit diesem seinen musterhaften Betragen die
schrecklichsten Mißhandlungen, die ihm von allen Sei-
ten zugefügt wurden; so muß die Größe der ihm
widerfahrnen Beleidigungen einem jeden sogleich in
die Augen leuchten. Groß waren allerdings die Un-
gerechtigkeiten, die man an ihm begieng; allein sei-
ne Großmuth im Verzeihen war doch noch größer.
Anstatt seinen Feinden zu drohen, ihnen göttliche
Strafen anzukündigen; anstatt ihnen, als verstock-
ten Bösewichtern, das Verdammungsurtheil zu spre-
chen, wird er vom Mitleiden gegen sie gerührt, und
ihr Unglück gehet ihm zu Herzen; er bedauert sie,
sein Mund öfnet sich voll Wehmuth und er bittet für
sie. Denn kaum hatte man ihn ans Kreuz geheftet,
an welchem er eines langsamen und schmachvollen
Todes sterben sollte, so flehte er für seine Mörder:
Vater! vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was
sie thun.
*) O wie groß und heilig muß der seyn,
der ohne alle Verstellung so beten konnte! Wo ist ein
Beyspiel der Großmuth, das diesem gleich käme?
Wenigstens muß der ein Unmensch seyn, und alles
Gefühl fürs Gute verlohren haben, der, wenn er die
Umstände überdenkt, unter welchen Jesus jene Wor-
te aussprach, nicht dadurch sollte gerührt werden, der
nicht wünschen sollte; von dieser edlen, großmüthi-

gen
*) Luc. 23, 34.

XLVI. Betrachtung.
Erden gelebt, der mit ihm nur einigermaßen in Ver-
gleichung geſetzt werden könnte. Vergleichet man
nun mit dieſem ſeinen muſterhaften Betragen die
ſchrecklichſten Mißhandlungen, die ihm von allen Sei-
ten zugefügt wurden; ſo muß die Größe der ihm
widerfahrnen Beleidigungen einem jeden ſogleich in
die Augen leuchten. Groß waren allerdings die Un-
gerechtigkeiten, die man an ihm begieng; allein ſei-
ne Großmuth im Verzeihen war doch noch größer.
Anſtatt ſeinen Feinden zu drohen, ihnen göttliche
Strafen anzukündigen; anſtatt ihnen, als verſtock-
ten Böſewichtern, das Verdammungsurtheil zu ſpre-
chen, wird er vom Mitleiden gegen ſie gerührt, und
ihr Unglück gehet ihm zu Herzen; er bedauert ſie,
ſein Mund öfnet ſich voll Wehmuth und er bittet für
ſie. Denn kaum hatte man ihn ans Kreuz geheftet,
an welchem er eines langſamen und ſchmachvollen
Todes ſterben ſollte, ſo flehte er für ſeine Mörder:
Vater! vergieb ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was
ſie thun.
*) O wie groß und heilig muß der ſeyn,
der ohne alle Verſtellung ſo beten konnte! Wo iſt ein
Beyſpiel der Großmuth, das dieſem gleich käme?
Wenigſtens muß der ein Unmenſch ſeyn, und alles
Gefühl fürs Gute verlohren haben, der, wenn er die
Umſtände überdenkt, unter welchen Jeſus jene Wor-
te ausſprach, nicht dadurch ſollte gerührt werden, der
nicht wünſchen ſollte; von dieſer edlen, großmüthi-

gen
*) Luc. 23, 34.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0325" n="299"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XLVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
Erden gelebt, der mit ihm nur einigermaßen in Ver-<lb/>
gleichung ge&#x017F;etzt werden könnte. Vergleichet man<lb/>
nun mit die&#x017F;em &#x017F;einen mu&#x017F;terhaften Betragen die<lb/>
&#x017F;chrecklich&#x017F;ten Mißhandlungen, die ihm von allen Sei-<lb/>
ten zugefügt wurden; &#x017F;o muß die Größe der ihm<lb/>
widerfahrnen Beleidigungen einem jeden &#x017F;ogleich in<lb/>
die Augen leuchten. Groß waren allerdings die Un-<lb/>
gerechtigkeiten, die man an ihm begieng; allein &#x017F;ei-<lb/>
ne Großmuth im Verzeihen war doch noch größer.<lb/>
An&#x017F;tatt &#x017F;einen Feinden zu drohen, ihnen göttliche<lb/>
Strafen anzukündigen; an&#x017F;tatt ihnen, als ver&#x017F;tock-<lb/>
ten Bö&#x017F;ewichtern, das Verdammungsurtheil zu &#x017F;pre-<lb/>
chen, wird er vom Mitleiden gegen &#x017F;ie gerührt, und<lb/>
ihr Unglück gehet ihm zu Herzen; er bedauert &#x017F;ie,<lb/>
&#x017F;ein Mund öfnet &#x017F;ich voll Wehmuth und er bittet für<lb/>
&#x017F;ie. Denn kaum hatte man ihn ans Kreuz geheftet,<lb/>
an welchem er eines lang&#x017F;amen und &#x017F;chmachvollen<lb/>
Todes &#x017F;terben &#x017F;ollte, &#x017F;o flehte er für &#x017F;eine Mörder:<lb/><hi rendition="#fr">Vater! vergieb ihnen, denn &#x017F;ie wi&#x017F;&#x017F;en nicht, was<lb/>
&#x017F;ie thun.</hi><note place="foot" n="*)">Luc. 23, 34.</note> O wie <hi rendition="#fr">groß und heilig</hi> muß der &#x017F;eyn,<lb/>
der ohne alle Ver&#x017F;tellung &#x017F;o beten konnte! Wo i&#x017F;t ein<lb/>
Bey&#x017F;piel der Großmuth, das die&#x017F;em gleich käme?<lb/>
Wenig&#x017F;tens muß der ein Unmen&#x017F;ch &#x017F;eyn, und alles<lb/>
Gefühl fürs Gute verlohren haben, der, wenn er die<lb/>
Um&#x017F;tände überdenkt, unter welchen Je&#x017F;us jene Wor-<lb/>
te aus&#x017F;prach, nicht dadurch &#x017F;ollte gerührt werden, der<lb/>
nicht wün&#x017F;chen &#x017F;ollte; von die&#x017F;er edlen, großmüthi-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0325] XLVI. Betrachtung. Erden gelebt, der mit ihm nur einigermaßen in Ver- gleichung geſetzt werden könnte. Vergleichet man nun mit dieſem ſeinen muſterhaften Betragen die ſchrecklichſten Mißhandlungen, die ihm von allen Sei- ten zugefügt wurden; ſo muß die Größe der ihm widerfahrnen Beleidigungen einem jeden ſogleich in die Augen leuchten. Groß waren allerdings die Un- gerechtigkeiten, die man an ihm begieng; allein ſei- ne Großmuth im Verzeihen war doch noch größer. Anſtatt ſeinen Feinden zu drohen, ihnen göttliche Strafen anzukündigen; anſtatt ihnen, als verſtock- ten Böſewichtern, das Verdammungsurtheil zu ſpre- chen, wird er vom Mitleiden gegen ſie gerührt, und ihr Unglück gehet ihm zu Herzen; er bedauert ſie, ſein Mund öfnet ſich voll Wehmuth und er bittet für ſie. Denn kaum hatte man ihn ans Kreuz geheftet, an welchem er eines langſamen und ſchmachvollen Todes ſterben ſollte, ſo flehte er für ſeine Mörder: Vater! vergieb ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun. *) O wie groß und heilig muß der ſeyn, der ohne alle Verſtellung ſo beten konnte! Wo iſt ein Beyſpiel der Großmuth, das dieſem gleich käme? Wenigſtens muß der ein Unmenſch ſeyn, und alles Gefühl fürs Gute verlohren haben, der, wenn er die Umſtände überdenkt, unter welchen Jeſus jene Wor- te ausſprach, nicht dadurch ſollte gerührt werden, der nicht wünſchen ſollte; von dieſer edlen, großmüthi- gen *) Luc. 23, 34.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/325
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/325>, abgerufen am 23.11.2024.