Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXXII. Betrachtung.
und Klugheit suchte er allem Streite vorzubeugen;
er ließ sichs oft gar nicht merken, daß ihm ihre bösen
feindseligen Absichten bekannt wären. Er fragte sie
aus Liebe zum Frieden bisweilen gleichsam um Rath,
und richtete auch seine Fragen so ein, daß sie nicht be-
leidiget wurden, und ihm nicht zuwider seyn konnten.
Außerdem war Jesus so nachgebend, so duldend, daß
er manche Kränkung übersahe, ohne sie mit dem ge-
ringsten Worte zu ahnden, dergestalt, daß sie nicht
an ihn kommen und nicht, wie sie wünschten, ein Feu-
er der Zwietracht wider ihn aufblasen konnten. Jhm
war die kluge Nachgiebigkeit ganz eigen, die lieber
gewisse Unannehmlichkeiten duldet und einen kleinen
Verlust leidet, als das Band der Freundschaft zer-
reißt. Doch vielleicht denkt mancher Leser, Jesus
sagt ja selbst: ihr sollt nicht wähnen, daß ich kom-
men sey, Friede zu senden auf Erden. Jch bin nicht
kommen, Friede zu senden, sondern das Schwerdt.
*)
Hier scheint es, als ob seine Absicht gewesen wäre:
Ruhe und Friede unter den Menschen zu stören.
Allein seine Meinung geht vielmehr dahin: die Stif-
tung und Einführung seiner Lehre werde die unschul-
dige Veranlassung seyn, daß viele Unruhen in der
Welt entstehen, und daß viele Familien sich darüber
entzweyen würden. Wäre es Jesu Absicht gewesen,
Uneinigkeit und Feindschaft zu stiften, wie hätte er

die
*) Matth. 10, 34.
O

XXXII. Betrachtung.
und Klugheit ſuchte er allem Streite vorzubeugen;
er ließ ſichs oft gar nicht merken, daß ihm ihre böſen
feindſeligen Abſichten bekannt wären. Er fragte ſie
aus Liebe zum Frieden bisweilen gleichſam um Rath,
und richtete auch ſeine Fragen ſo ein, daß ſie nicht be-
leidiget wurden, und ihm nicht zuwider ſeyn konnten.
Außerdem war Jeſus ſo nachgebend, ſo duldend, daß
er manche Kränkung überſahe, ohne ſie mit dem ge-
ringſten Worte zu ahnden, dergeſtalt, daß ſie nicht
an ihn kommen und nicht, wie ſie wünſchten, ein Feu-
er der Zwietracht wider ihn aufblaſen konnten. Jhm
war die kluge Nachgiebigkeit ganz eigen, die lieber
gewiſſe Unannehmlichkeiten duldet und einen kleinen
Verluſt leidet, als das Band der Freundſchaft zer-
reißt. Doch vielleicht denkt mancher Leſer, Jeſus
ſagt ja ſelbſt: ihr ſollt nicht wähnen, daß ich kom-
men ſey, Friede zu ſenden auf Erden. Jch bin nicht
kommen, Friede zu ſenden, ſondern das Schwerdt.
*)
Hier ſcheint es, als ob ſeine Abſicht geweſen wäre:
Ruhe und Friede unter den Menſchen zu ſtören.
Allein ſeine Meinung geht vielmehr dahin: die Stif-
tung und Einführung ſeiner Lehre werde die unſchul-
dige Veranlaſſung ſeyn, daß viele Unruhen in der
Welt entſtehen, und daß viele Familien ſich darüber
entzweyen würden. Wäre es Jeſu Abſicht geweſen,
Uneinigkeit und Feindſchaft zu ſtiften, wie hätte er

die
*) Matth. 10, 34.
O
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0235" n="209"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXXII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
und Klugheit &#x017F;uchte er allem Streite vorzubeugen;<lb/>
er ließ &#x017F;ichs oft gar nicht merken, daß ihm ihre bö&#x017F;en<lb/>
feind&#x017F;eligen Ab&#x017F;ichten bekannt wären. Er fragte &#x017F;ie<lb/>
aus Liebe zum Frieden bisweilen gleich&#x017F;am um Rath,<lb/>
und richtete auch &#x017F;eine Fragen &#x017F;o ein, daß &#x017F;ie nicht be-<lb/>
leidiget wurden, und ihm nicht zuwider &#x017F;eyn konnten.<lb/>
Außerdem war Je&#x017F;us &#x017F;o nachgebend, &#x017F;o duldend, daß<lb/>
er manche Kränkung über&#x017F;ahe, ohne &#x017F;ie mit dem ge-<lb/>
ring&#x017F;ten Worte zu ahnden, derge&#x017F;talt, daß &#x017F;ie nicht<lb/>
an ihn kommen und nicht, wie &#x017F;ie wün&#x017F;chten, ein Feu-<lb/>
er der Zwietracht wider ihn aufbla&#x017F;en konnten. Jhm<lb/>
war die kluge Nachgiebigkeit ganz eigen, die lieber<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Unannehmlichkeiten duldet und einen kleinen<lb/>
Verlu&#x017F;t leidet, als das Band der Freund&#x017F;chaft zer-<lb/>
reißt. Doch vielleicht denkt mancher Le&#x017F;er, Je&#x017F;us<lb/>
&#x017F;agt ja &#x017F;elb&#x017F;t: <hi rendition="#fr">ihr &#x017F;ollt nicht wähnen, daß ich kom-<lb/>
men &#x017F;ey, Friede zu &#x017F;enden auf Erden. Jch bin nicht<lb/>
kommen, Friede zu &#x017F;enden, &#x017F;ondern das Schwerdt.</hi><note place="foot" n="*)">Matth. 10, 34.</note><lb/>
Hier &#x017F;cheint es, als ob &#x017F;eine Ab&#x017F;icht gewe&#x017F;en wäre:<lb/>
Ruhe und Friede unter den Men&#x017F;chen zu &#x017F;tören.<lb/>
Allein &#x017F;eine Meinung geht vielmehr dahin: die Stif-<lb/>
tung und Einführung &#x017F;einer Lehre werde die un&#x017F;chul-<lb/>
dige Veranla&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;eyn, daß viele Unruhen in der<lb/>
Welt ent&#x017F;tehen, und daß viele Familien &#x017F;ich darüber<lb/>
entzweyen würden. Wäre es Je&#x017F;u Ab&#x017F;icht gewe&#x017F;en,<lb/>
Uneinigkeit und Feind&#x017F;chaft zu &#x017F;tiften, wie hätte er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0235] XXXII. Betrachtung. und Klugheit ſuchte er allem Streite vorzubeugen; er ließ ſichs oft gar nicht merken, daß ihm ihre böſen feindſeligen Abſichten bekannt wären. Er fragte ſie aus Liebe zum Frieden bisweilen gleichſam um Rath, und richtete auch ſeine Fragen ſo ein, daß ſie nicht be- leidiget wurden, und ihm nicht zuwider ſeyn konnten. Außerdem war Jeſus ſo nachgebend, ſo duldend, daß er manche Kränkung überſahe, ohne ſie mit dem ge- ringſten Worte zu ahnden, dergeſtalt, daß ſie nicht an ihn kommen und nicht, wie ſie wünſchten, ein Feu- er der Zwietracht wider ihn aufblaſen konnten. Jhm war die kluge Nachgiebigkeit ganz eigen, die lieber gewiſſe Unannehmlichkeiten duldet und einen kleinen Verluſt leidet, als das Band der Freundſchaft zer- reißt. Doch vielleicht denkt mancher Leſer, Jeſus ſagt ja ſelbſt: ihr ſollt nicht wähnen, daß ich kom- men ſey, Friede zu ſenden auf Erden. Jch bin nicht kommen, Friede zu ſenden, ſondern das Schwerdt. *) Hier ſcheint es, als ob ſeine Abſicht geweſen wäre: Ruhe und Friede unter den Menſchen zu ſtören. Allein ſeine Meinung geht vielmehr dahin: die Stif- tung und Einführung ſeiner Lehre werde die unſchul- dige Veranlaſſung ſeyn, daß viele Unruhen in der Welt entſtehen, und daß viele Familien ſich darüber entzweyen würden. Wäre es Jeſu Abſicht geweſen, Uneinigkeit und Feindſchaft zu ſtiften, wie hätte er die *) Matth. 10, 34. O

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/235
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/235>, abgerufen am 22.11.2024.