Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXVI. Betrachtung.
Flucht bey seiner Gefangennehmung, Vorwürfe;
daher kam es, daß er den Petrus nicht an seinen Leicht-
sinn und an seine Treulosigkeit in der Folge beschä-
mend erinnerte, sondern er sorgte vielmehr für die
Beruhigung seines bekümmerten Herzens, indem er
ihm zuerst von seiner Auferstehung Nachricht geben
ließ.*)

Schäme dich also, Christ, der du so begierig die
Fehler deines Nächsten aufsuchst, und dich freuest,
wenn du welche entdeckst, oder entdeckt zu haben
glaubst; der du die Fehler deines Nächsten ausbrei-
test, oder wohl gar durch boshaft erdichtete Zusätze
vergrößerst. O wie tief stehst du unter deinem Er-
löser, für dessen Schüler du dich ausgiebst, und
dem du doch ganz unähnlich bist. Schäme dich,
daß du dich besonders über die Fehler, welche andre
gegen dich begehen, so leicht aufbringen und zur em-
pfindlichsten Rache verleiten lässest. Schäme dich,
daß du oft die Fehler deines Nächsten auf die schlimm-
ste Art auslegest, von seinen Worten und Handlun-
gen das ärgste denkest, ohne zu überlegen, daß sie
vielleicht ohne allen Vorsatz, dich zu beleidigen, sind
ausgesprochen und unternommen worden. Bedenke
doch, daß dein Nächster auch ein schwacher Mensch
ist, wie du, der manchen Fehler mehr aus Unver-
stand, und aus Mangel an Ueberlegung, als aus

ent-
*) Marc. 16, 7.

XXVI. Betrachtung.
Flucht bey ſeiner Gefangennehmung, Vorwürfe;
daher kam es, daß er den Petrus nicht an ſeinen Leicht-
ſinn und an ſeine Treuloſigkeit in der Folge beſchä-
mend erinnerte, ſondern er ſorgte vielmehr für die
Beruhigung ſeines bekümmerten Herzens, indem er
ihm zuerſt von ſeiner Auferſtehung Nachricht geben
ließ.*)

Schäme dich alſo, Chriſt, der du ſo begierig die
Fehler deines Nächſten aufſuchſt, und dich freueſt,
wenn du welche entdeckſt, oder entdeckt zu haben
glaubſt; der du die Fehler deines Nächſten ausbrei-
teſt, oder wohl gar durch boshaft erdichtete Zuſätze
vergrößerſt. O wie tief ſtehſt du unter deinem Er-
löſer, für deſſen Schüler du dich ausgiebſt, und
dem du doch ganz unähnlich biſt. Schäme dich,
daß du dich beſonders über die Fehler, welche andre
gegen dich begehen, ſo leicht aufbringen und zur em-
pfindlichſten Rache verleiten läſſeſt. Schäme dich,
daß du oft die Fehler deines Nächſten auf die ſchlimm-
ſte Art auslegeſt, von ſeinen Worten und Handlun-
gen das ärgſte denkeſt, ohne zu überlegen, daß ſie
vielleicht ohne allen Vorſatz, dich zu beleidigen, ſind
ausgeſprochen und unternommen worden. Bedenke
doch, daß dein Nächſter auch ein ſchwacher Menſch
iſt, wie du, der manchen Fehler mehr aus Unver-
ſtand, und aus Mangel an Ueberlegung, als aus

ent-
*) Marc. 16, 7.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0197" n="171"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
Flucht bey &#x017F;einer Gefangennehmung, Vorwürfe;<lb/>
daher kam es, daß er den Petrus nicht an &#x017F;einen Leicht-<lb/>
&#x017F;inn und an &#x017F;eine Treulo&#x017F;igkeit in der Folge be&#x017F;chä-<lb/>
mend erinnerte, &#x017F;ondern er &#x017F;orgte vielmehr für die<lb/>
Beruhigung &#x017F;eines bekümmerten Herzens, indem er<lb/>
ihm zuer&#x017F;t von &#x017F;einer Aufer&#x017F;tehung Nachricht geben<lb/>
ließ.<note place="foot" n="*)">Marc. 16, 7.</note></p><lb/>
          <p>Schäme dich al&#x017F;o, Chri&#x017F;t, der du &#x017F;o begierig die<lb/>
Fehler deines Näch&#x017F;ten auf&#x017F;uch&#x017F;t, und dich freue&#x017F;t,<lb/>
wenn du welche entdeck&#x017F;t, oder entdeckt zu haben<lb/>
glaub&#x017F;t; der du die Fehler deines Näch&#x017F;ten ausbrei-<lb/>
te&#x017F;t, oder wohl gar durch boshaft erdichtete Zu&#x017F;ätze<lb/>
vergrößer&#x017F;t. O wie tief &#x017F;teh&#x017F;t du unter deinem Er-<lb/>&#x017F;er, für de&#x017F;&#x017F;en Schüler du dich ausgieb&#x017F;t, und<lb/>
dem du doch ganz unähnlich bi&#x017F;t. Schäme dich,<lb/>
daß du dich be&#x017F;onders über die Fehler, welche andre<lb/>
gegen dich begehen, &#x017F;o leicht aufbringen und zur em-<lb/>
pfindlich&#x017F;ten Rache verleiten lä&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t. Schäme dich,<lb/>
daß du oft die Fehler deines Näch&#x017F;ten auf die &#x017F;chlimm-<lb/>
&#x017F;te Art auslege&#x017F;t, von &#x017F;einen Worten und Handlun-<lb/>
gen das ärg&#x017F;te denke&#x017F;t, ohne zu überlegen, daß &#x017F;ie<lb/>
vielleicht ohne allen Vor&#x017F;atz, dich zu beleidigen, &#x017F;ind<lb/>
ausge&#x017F;prochen und unternommen worden. Bedenke<lb/>
doch, daß dein Näch&#x017F;ter auch ein &#x017F;chwacher Men&#x017F;ch<lb/>
i&#x017F;t, wie du, der manchen Fehler mehr aus Unver-<lb/>
&#x017F;tand, und aus Mangel an Ueberlegung, als aus<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ent-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0197] XXVI. Betrachtung. Flucht bey ſeiner Gefangennehmung, Vorwürfe; daher kam es, daß er den Petrus nicht an ſeinen Leicht- ſinn und an ſeine Treuloſigkeit in der Folge beſchä- mend erinnerte, ſondern er ſorgte vielmehr für die Beruhigung ſeines bekümmerten Herzens, indem er ihm zuerſt von ſeiner Auferſtehung Nachricht geben ließ. *) Schäme dich alſo, Chriſt, der du ſo begierig die Fehler deines Nächſten aufſuchſt, und dich freueſt, wenn du welche entdeckſt, oder entdeckt zu haben glaubſt; der du die Fehler deines Nächſten ausbrei- teſt, oder wohl gar durch boshaft erdichtete Zuſätze vergrößerſt. O wie tief ſtehſt du unter deinem Er- löſer, für deſſen Schüler du dich ausgiebſt, und dem du doch ganz unähnlich biſt. Schäme dich, daß du dich beſonders über die Fehler, welche andre gegen dich begehen, ſo leicht aufbringen und zur em- pfindlichſten Rache verleiten läſſeſt. Schäme dich, daß du oft die Fehler deines Nächſten auf die ſchlimm- ſte Art auslegeſt, von ſeinen Worten und Handlun- gen das ärgſte denkeſt, ohne zu überlegen, daß ſie vielleicht ohne allen Vorſatz, dich zu beleidigen, ſind ausgeſprochen und unternommen worden. Bedenke doch, daß dein Nächſter auch ein ſchwacher Menſch iſt, wie du, der manchen Fehler mehr aus Unver- ſtand, und aus Mangel an Ueberlegung, als aus ent- *) Marc. 16, 7.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/197
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/197>, abgerufen am 22.11.2024.