Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXVI. Betrachtung. Art die Gesinnungen der wahren Menschenliebe, alsin ihren Urtheilen, die sie über anderer Menschen Fehler fällen. Nachsichtig gegen sich selbst sind sie wohl, und sie verlangen auch, daß andre ihre Fehler nicht bemerken, wenigstens nicht hart beurtheilen und nicht lieblos tadeln sollen; aber sie wollen nicht an ih- ren Mitmenschen das ausüben, was sie doch selbst sehnlich wünschen. Gleichwohl aber heißt es: einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Chri- sti erfüllen,*) der so oft seinen Schülern nachsichts- volle Beurtheilung ihrer Mitmenschen einschärfte, und selbst durch sein Beyspiel empfahl. Gegen muth- willige Bosheit; gegen offenbare Heucheley eiferte er freylich mit Nachdruck, weil er wußte, wie viel Un- heil dadurch angerichtet wurde. Allein ob er sonst gleich sehr genau seine Mitmenschen kannte, und sie weit richtiger zu beurtheilen im Stande war, als wir, so urtheilte er doch immer mit Schonung und Liebe von ihnen. Er beurtheilte sie nicht nach stren- gen Gebräuchen, sondern immer nach Billigkeit und Menschenliebe, und handelte hierinne ganz anders als die Pharisäer, die seine Schüler blos deswegen für Verächter des Sabbaths erklärten, weil sie auf der Reise am Sabbath einige Kornähren ausrauften und die reifen Körner aßen.**) Jn seiner ganzen Geschich- te herrscht ein sanfter Geist der schonenden Beurthei- lung. *) Gal. 6, 2. **) Matth. 12, 1-7.
XXVI. Betrachtung. Art die Geſinnungen der wahren Menſchenliebe, alsin ihren Urtheilen, die ſie über anderer Menſchen Fehler fällen. Nachſichtig gegen ſich ſelbſt ſind ſie wohl, und ſie verlangen auch, daß andre ihre Fehler nicht bemerken, wenigſtens nicht hart beurtheilen und nicht lieblos tadeln ſollen; aber ſie wollen nicht an ih- ren Mitmenſchen das ausüben, was ſie doch ſelbſt ſehnlich wünſchen. Gleichwohl aber heißt es: einer trage des andern Laſt, ſo werdet ihr das Geſetz Chri- ſti erfüllen,*) der ſo oft ſeinen Schülern nachſichts- volle Beurtheilung ihrer Mitmenſchen einſchärfte, und ſelbſt durch ſein Beyſpiel empfahl. Gegen muth- willige Bosheit; gegen offenbare Heucheley eiferte er freylich mit Nachdruck, weil er wußte, wie viel Un- heil dadurch angerichtet wurde. Allein ob er ſonſt gleich ſehr genau ſeine Mitmenſchen kannte, und ſie weit richtiger zu beurtheilen im Stande war, als wir, ſo urtheilte er doch immer mit Schonung und Liebe von ihnen. Er beurtheilte ſie nicht nach ſtren- gen Gebräuchen, ſondern immer nach Billigkeit und Menſchenliebe, und handelte hierinne ganz anders als die Phariſäer, die ſeine Schüler blos deswegen für Verächter des Sabbaths erklärten, weil ſie auf der Reiſe am Sabbath einige Kornähren ausrauften und die reifen Körner aßen.**) Jn ſeiner ganzen Geſchich- te herrſcht ein ſanfter Geiſt der ſchonenden Beurthei- lung. *) Gal. 6, 2. **) Matth. 12, 1-7.
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XXVI. Betrachtung.
Art die Geſinnungen der wahren Menſchenliebe, als
in ihren Urtheilen, die ſie über anderer Menſchen
Fehler fällen. Nachſichtig gegen ſich ſelbſt ſind ſie
wohl, und ſie verlangen auch, daß andre ihre Fehler
nicht bemerken, wenigſtens nicht hart beurtheilen und
nicht lieblos tadeln ſollen; aber ſie wollen nicht an ih-
ren Mitmenſchen das ausüben, was ſie doch ſelbſt
ſehnlich wünſchen. Gleichwohl aber heißt es: einer
trage des andern Laſt, ſo werdet ihr das Geſetz Chri-
ſti erfüllen, *) der ſo oft ſeinen Schülern nachſichts-
volle Beurtheilung ihrer Mitmenſchen einſchärfte,
und ſelbſt durch ſein Beyſpiel empfahl. Gegen muth-
willige Bosheit; gegen offenbare Heucheley eiferte er
freylich mit Nachdruck, weil er wußte, wie viel Un-
heil dadurch angerichtet wurde. Allein ob er ſonſt
gleich ſehr genau ſeine Mitmenſchen kannte, und ſie
weit richtiger zu beurtheilen im Stande war, als
wir, ſo urtheilte er doch immer mit Schonung und
Liebe von ihnen. Er beurtheilte ſie nicht nach ſtren-
gen Gebräuchen, ſondern immer nach Billigkeit und
Menſchenliebe, und handelte hierinne ganz anders als
die Phariſäer, die ſeine Schüler blos deswegen für
Verächter des Sabbaths erklärten, weil ſie auf der
Reiſe am Sabbath einige Kornähren ausrauften und
die reifen Körner aßen. **) Jn ſeiner ganzen Geſchich-
te herrſcht ein ſanfter Geiſt der ſchonenden Beurthei-
lung.
*) Gal. 6, 2.
**) Matth. 12, 1-7.
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