Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXII. Betrachtung. leute sagen: ich bin ein guter Hirte, ich lasse meinLeben für die Schafe.*) Wenn aber Jesus sein Va- terland vorzüglich liebte und schätzte, so übersah er deswegen die Mängel desselben nicht, sondern er deck- te sie freymüthig auf und bestrafte sie nachdrücklich. Auch ließ er sich nicht abhalten, den Heiden und Sa- maritern Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, und Wohlthaten zu erweisen, so bald sie beßre Gesinnun- gen äußerten, als die Juden. Nie nährte er die jü- dische empörungssüchtige Vaterlandsliebe, nach der sie schlechterdings keine fremde Oberherrschaft aner- kennen wollten, und nach der sie jedes andere Volk haßten und anfeindeten. Jst es also nicht ein höchst ungerechtes Vorgeben, wenn man behauptet: "das Christenthum lehre die Liebe zum Vaterlande nicht, sondern unterdrücke dieselbe?" Jst es nicht offenbar falsch, wenn man den Charakter Jesu von dieser Sei- te angreift und tadelt? Denn von Niemanden kön- nen wir besser lernen, was unser Vaterland mit Recht von uns fordern kann, als von Jesu, und Niemand hat uns so viel herrliche Vorschriften gegeben, die Beziehung darauf haben, als er. Willst du also auch als Patriot gut denken und Vater- *) Joh. 10, 15.
XXII. Betrachtung. leute ſagen: ich bin ein guter Hirte, ich laſſe meinLeben für die Schafe.*) Wenn aber Jeſus ſein Va- terland vorzüglich liebte und ſchätzte, ſo überſah er deswegen die Mängel deſſelben nicht, ſondern er deck- te ſie freymüthig auf und beſtrafte ſie nachdrücklich. Auch ließ er ſich nicht abhalten, den Heiden und Sa- maritern Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen, und Wohlthaten zu erweiſen, ſo bald ſie beßre Geſinnun- gen äußerten, als die Juden. Nie nährte er die jü- diſche empörungsſüchtige Vaterlandsliebe, nach der ſie ſchlechterdings keine fremde Oberherrſchaft aner- kennen wollten, und nach der ſie jedes andere Volk haßten und anfeindeten. Jſt es alſo nicht ein höchſt ungerechtes Vorgeben, wenn man behauptet: „das Chriſtenthum lehre die Liebe zum Vaterlande nicht, ſondern unterdrücke dieſelbe?“ Jſt es nicht offenbar falſch, wenn man den Charakter Jeſu von dieſer Sei- te angreift und tadelt? Denn von Niemanden kön- nen wir beſſer lernen, was unſer Vaterland mit Recht von uns fordern kann, als von Jeſu, und Niemand hat uns ſo viel herrliche Vorſchriften gegeben, die Beziehung darauf haben, als er. Willſt du alſo auch als Patriot gut denken und Vater- *) Joh. 10, 15.
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XXII. Betrachtung.
leute ſagen: ich bin ein guter Hirte, ich laſſe mein
Leben für die Schafe. *) Wenn aber Jeſus ſein Va-
terland vorzüglich liebte und ſchätzte, ſo überſah er
deswegen die Mängel deſſelben nicht, ſondern er deck-
te ſie freymüthig auf und beſtrafte ſie nachdrücklich.
Auch ließ er ſich nicht abhalten, den Heiden und Sa-
maritern Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen, und
Wohlthaten zu erweiſen, ſo bald ſie beßre Geſinnun-
gen äußerten, als die Juden. Nie nährte er die jü-
diſche empörungsſüchtige Vaterlandsliebe, nach der
ſie ſchlechterdings keine fremde Oberherrſchaft aner-
kennen wollten, und nach der ſie jedes andere Volk
haßten und anfeindeten. Jſt es alſo nicht ein höchſt
ungerechtes Vorgeben, wenn man behauptet: „das
Chriſtenthum lehre die Liebe zum Vaterlande nicht,
ſondern unterdrücke dieſelbe?“ Jſt es nicht offenbar
falſch, wenn man den Charakter Jeſu von dieſer Sei-
te angreift und tadelt? Denn von Niemanden kön-
nen wir beſſer lernen, was unſer Vaterland mit Recht
von uns fordern kann, als von Jeſu, und Niemand
hat uns ſo viel herrliche Vorſchriften gegeben, die
Beziehung darauf haben, als er.
Willſt du alſo auch als Patriot gut denken und
handeln, ſo wähle dir Jeſum zum Muſter, und ler-
ne von ihm den wahren geſchäftigen Eifer für das
Wohl deiner Mitbürger. Liebe und ſchätze dein
Vater-
*) Joh. 10, 15.
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