Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXII. Betrachtung. Stadt Jerusalem? Eine Sprache, die das schönsteGemählde der Zärtlichkeit, die die rührendste Be- kümmerniß der mütterlichen Liebe ausdrückt. Eine Sprache, die er selbst da noch führte, als ihn bey seiner Hinführung zur Kreuzigung einige edle Seelen bedauerten, und er sie so anredete: weinet nicht über mich, weinet über euch selbst und über eure Kin- der!*) Hatte er bey seinem letzten Einzuge in die Hauptstadt, auf einem Hügel, die völlige Aussicht über die so blühende volkreiche Stadt, vor sich, wel- che so viele Jahrhunderte hindurch der vornehmste Ort der öffentlichen Gottesverehrung gewesen war, dachte er sich dabey die nicht mehr weit entfernte Ver- wüstung und Zerstörung derselben, wo alle Pracht und Herrlichkeit in Staub und Asche sollte verwan- delt werden, wo kein Stein über dem andern bleiben sollte, so heißt es von ihm: er sahe die Stadt an und weinte über sie und sprach: wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet.**) Ja er wurde endlich das Opfer für die Wohlfahrt seines Vaterlandes, und hat sich durch diesen traurigen Ausgang seines Lebens, den er selbst vorhersahe, nicht im geringsten abhalten lassen, zur Rettung seines Vaterlandes, al- les zu thun, was er nur konnte. Mit vollem Rech- te konnte er daher auch in Beziehung auf seine Lands- leute *) Luc. 23, 28. **) Luc. 19, 41. 42.
XXII. Betrachtung. Stadt Jeruſalem? Eine Sprache, die das ſchönſteGemählde der Zärtlichkeit, die die rührendſte Be- kümmerniß der mütterlichen Liebe ausdrückt. Eine Sprache, die er ſelbſt da noch führte, als ihn bey ſeiner Hinführung zur Kreuzigung einige edle Seelen bedauerten, und er ſie ſo anredete: weinet nicht über mich, weinet über euch ſelbſt und über eure Kin- der!*) Hatte er bey ſeinem letzten Einzuge in die Hauptſtadt, auf einem Hügel, die völlige Ausſicht über die ſo blühende volkreiche Stadt, vor ſich, wel- che ſo viele Jahrhunderte hindurch der vornehmſte Ort der öffentlichen Gottesverehrung geweſen war, dachte er ſich dabey die nicht mehr weit entfernte Ver- wüſtung und Zerſtörung derſelben, wo alle Pracht und Herrlichkeit in Staub und Aſche ſollte verwan- delt werden, wo kein Stein über dem andern bleiben ſollte, ſo heißt es von ihm: er ſahe die Stadt an und weinte über ſie und ſprach: wenn du es wüßteſt, ſo würdeſt du auch bedenken zu dieſer deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet.**) Ja er wurde endlich das Opfer für die Wohlfahrt ſeines Vaterlandes, und hat ſich durch dieſen traurigen Ausgang ſeines Lebens, den er ſelbſt vorherſahe, nicht im geringſten abhalten laſſen, zur Rettung ſeines Vaterlandes, al- les zu thun, was er nur konnte. Mit vollem Rech- te konnte er daher auch in Beziehung auf ſeine Lands- leute *) Luc. 23, 28. **) Luc. 19, 41. 42.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0167" n="141"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> Stadt Jeruſalem? Eine Sprache, die das ſchönſte<lb/> Gemählde der Zärtlichkeit, die die rührendſte Be-<lb/> kümmerniß der mütterlichen Liebe ausdrückt. Eine<lb/> Sprache, die er ſelbſt da noch führte, als ihn bey<lb/> ſeiner Hinführung zur Kreuzigung einige edle Seelen<lb/> bedauerten, und er ſie ſo anredete: <hi rendition="#fr">weinet nicht über<lb/> mich, weinet über euch ſelbſt und über eure Kin-<lb/> der!</hi><note place="foot" n="*)">Luc. 23, 28.</note> Hatte er bey ſeinem letzten Einzuge in die<lb/> Hauptſtadt, auf einem Hügel, die völlige Ausſicht<lb/> über die ſo blühende volkreiche Stadt, vor ſich, wel-<lb/> che ſo viele Jahrhunderte hindurch der vornehmſte<lb/> Ort der öffentlichen Gottesverehrung geweſen war,<lb/> dachte er ſich dabey die nicht mehr weit entfernte Ver-<lb/> wüſtung und Zerſtörung derſelben, wo alle Pracht<lb/> und Herrlichkeit in Staub und Aſche ſollte verwan-<lb/> delt werden, wo kein Stein über dem andern bleiben<lb/> ſollte, ſo heißt es von ihm: <hi rendition="#fr">er ſahe die Stadt an und<lb/> weinte über ſie und ſprach: wenn du es wüßteſt, ſo<lb/> würdeſt du auch bedenken zu dieſer deiner Zeit, was<lb/> zu deinem Frieden dienet.</hi><note place="foot" n="**)">Luc. 19, 41. 42.</note> Ja er wurde endlich<lb/> das Opfer für die Wohlfahrt ſeines Vaterlandes,<lb/> und hat ſich durch dieſen traurigen Ausgang ſeines<lb/> Lebens, den er ſelbſt vorherſahe, nicht im geringſten<lb/> abhalten laſſen, zur Rettung ſeines Vaterlandes, al-<lb/> les zu thun, was er nur konnte. Mit vollem Rech-<lb/> te konnte er daher auch in Beziehung auf ſeine Lands-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">leute</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0167]
XXII. Betrachtung.
Stadt Jeruſalem? Eine Sprache, die das ſchönſte
Gemählde der Zärtlichkeit, die die rührendſte Be-
kümmerniß der mütterlichen Liebe ausdrückt. Eine
Sprache, die er ſelbſt da noch führte, als ihn bey
ſeiner Hinführung zur Kreuzigung einige edle Seelen
bedauerten, und er ſie ſo anredete: weinet nicht über
mich, weinet über euch ſelbſt und über eure Kin-
der! *) Hatte er bey ſeinem letzten Einzuge in die
Hauptſtadt, auf einem Hügel, die völlige Ausſicht
über die ſo blühende volkreiche Stadt, vor ſich, wel-
che ſo viele Jahrhunderte hindurch der vornehmſte
Ort der öffentlichen Gottesverehrung geweſen war,
dachte er ſich dabey die nicht mehr weit entfernte Ver-
wüſtung und Zerſtörung derſelben, wo alle Pracht
und Herrlichkeit in Staub und Aſche ſollte verwan-
delt werden, wo kein Stein über dem andern bleiben
ſollte, ſo heißt es von ihm: er ſahe die Stadt an und
weinte über ſie und ſprach: wenn du es wüßteſt, ſo
würdeſt du auch bedenken zu dieſer deiner Zeit, was
zu deinem Frieden dienet. **) Ja er wurde endlich
das Opfer für die Wohlfahrt ſeines Vaterlandes,
und hat ſich durch dieſen traurigen Ausgang ſeines
Lebens, den er ſelbſt vorherſahe, nicht im geringſten
abhalten laſſen, zur Rettung ſeines Vaterlandes, al-
les zu thun, was er nur konnte. Mit vollem Rech-
te konnte er daher auch in Beziehung auf ſeine Lands-
leute
*) Luc. 23, 28.
**) Luc. 19, 41. 42.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |