Doch hüte dich, mein Christ, daß deine Men- schenliebe nicht blos in schmeichelhaften Reden, in glatten und unfruchtbaren Worten bestehe, sondern lege überall selbst Hand an, wo du Elend vermin- dern, und wo du Glückseligkeit befördern kannst. Denn was hilft dir das, wenn du viel von Menschen- liebe sprichst, und sie nicht ausübst? Dann bist du einem Baume gleich, der viel schöne Blühten hat, aber keine Früchte bringt. Freundschaftsversiche- rungen sind gut, aber thätige Hülfe noch besser. Ver- setze dich nur oft in die Lage und in die Umstände, in welchen sich dein Mitmensch befindet, frage dein eig- nes Gefühl, und denke: was würdest du wünschen, wenn du an seiner Stelle wärest? und du wirst füh- len, was Jesus sagen wollte, als er jene Ermahnung gab: Alles, was ihr wollet, das euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen.*) Was wäre auch sonst dein Glaube an Jesum, dessen du dich rühmest und tröstest, wenn er nicht durch Liebe thätig wäre? Nichts als ein todter Körper, der keine Empfindung und Bewegung mehr hat, der also nichts Gutes mehr wirken und thun kann. Schränke übrigens deine Menschenliebe nicht blos aufs Geben und Wohl- thun ein; das ist ja nur ein Theil, und noch darzu der kleinste und leichteste Theil der Menschenliebe. Denn wie könnten sonst die Armen Menschenliebe ausüben, die außer Stand gesetzt sind, andern das
zu
*) Matth. 7, 12.
XXI. Betrachtung.
Doch hüte dich, mein Chriſt, daß deine Men- ſchenliebe nicht blos in ſchmeichelhaften Reden, in glatten und unfruchtbaren Worten beſtehe, ſondern lege überall ſelbſt Hand an, wo du Elend vermin- dern, und wo du Glückſeligkeit befördern kannſt. Denn was hilft dir das, wenn du viel von Menſchen- liebe ſprichſt, und ſie nicht ausübſt? Dann biſt du einem Baume gleich, der viel ſchöne Blühten hat, aber keine Früchte bringt. Freundſchaftsverſiche- rungen ſind gut, aber thätige Hülfe noch beſſer. Ver- ſetze dich nur oft in die Lage und in die Umſtände, in welchen ſich dein Mitmenſch befindet, frage dein eig- nes Gefühl, und denke: was würdeſt du wünſchen, wenn du an ſeiner Stelle wäreſt? und du wirſt füh- len, was Jeſus ſagen wollte, als er jene Ermahnung gab: Alles, was ihr wollet, das euch die Leute thun ſollen, das thut ihr ihnen.*) Was wäre auch ſonſt dein Glaube an Jeſum, deſſen du dich rühmeſt und tröſteſt, wenn er nicht durch Liebe thätig wäre? Nichts als ein todter Körper, der keine Empfindung und Bewegung mehr hat, der alſo nichts Gutes mehr wirken und thun kann. Schränke übrigens deine Menſchenliebe nicht blos aufs Geben und Wohl- thun ein; das iſt ja nur ein Theil, und noch darzu der kleinſte und leichteſte Theil der Menſchenliebe. Denn wie könnten ſonſt die Armen Menſchenliebe ausüben, die außer Stand geſetzt ſind, andern das
zu
*) Matth. 7, 12.
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XXI. Betrachtung.
Doch hüte dich, mein Chriſt, daß deine Men-
ſchenliebe nicht blos in ſchmeichelhaften Reden, in
glatten und unfruchtbaren Worten beſtehe, ſondern
lege überall ſelbſt Hand an, wo du Elend vermin-
dern, und wo du Glückſeligkeit befördern kannſt.
Denn was hilft dir das, wenn du viel von Menſchen-
liebe ſprichſt, und ſie nicht ausübſt? Dann biſt du
einem Baume gleich, der viel ſchöne Blühten hat,
aber keine Früchte bringt. Freundſchaftsverſiche-
rungen ſind gut, aber thätige Hülfe noch beſſer. Ver-
ſetze dich nur oft in die Lage und in die Umſtände, in
welchen ſich dein Mitmenſch befindet, frage dein eig-
nes Gefühl, und denke: was würdeſt du wünſchen,
wenn du an ſeiner Stelle wäreſt? und du wirſt füh-
len, was Jeſus ſagen wollte, als er jene Ermahnung
gab: Alles, was ihr wollet, das euch die Leute thun
ſollen, das thut ihr ihnen. *) Was wäre auch ſonſt
dein Glaube an Jeſum, deſſen du dich rühmeſt und
tröſteſt, wenn er nicht durch Liebe thätig wäre?
Nichts als ein todter Körper, der keine Empfindung
und Bewegung mehr hat, der alſo nichts Gutes
mehr wirken und thun kann. Schränke übrigens
deine Menſchenliebe nicht blos aufs Geben und Wohl-
thun ein; das iſt ja nur ein Theil, und noch darzu
der kleinſte und leichteſte Theil der Menſchenliebe.
Denn wie könnten ſonſt die Armen Menſchenliebe
ausüben, die außer Stand geſetzt ſind, andern das
zu
*) Matth. 7, 12.
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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/162>, abgerufen am 24.11.2024.
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