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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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XX. Betrachtung.
Grab finden, wenn sie nicht zu ganz andern Gesin-
nungen und zu einem gebesserten Leben zurückkehren.
Bey allen diesen Gelegenheiten wollte also Jesus sei-
ne Zeitgenossen vor lieblosen menschenfeindlichen Ur-
theilen über ihre leidenden und unglücklichen Mitmen-
schen warnen, und sie mehr zum Nachdenken über
ihren eigenen verderbten sittlichen Zustand nach und
nach gewöhnen; er wollte auch dadurch zeigen, daß
er nicht gekommen sey, die Welt zu richten, sondern
die Welt selig zu machen.*)

Dies sey denn nun auch uns eine Warnung vor
sündlichen Urtheilen über solche Personen, die etwa
ein besonderer Unglücksfall trift. Denn ein einstür-
zender Thurm kann den Tugendhaften eben sowohl
zermalmen, als den Sünder. Allgemeine Land-
plagen und einzelne Unglücksfälle können eben sowohl
über den Frommen als über den Gottlosen kommen.
Nie will ich also über Diejenigen lieblose und harte
Urtheile fällen, die vorzüglich leiden müssen, oder
die ein ungewöhnlich hartes und trauriges Schicksal
betrift. Jch selbst kann wohl wissen, ob dieses oder
jenes Uebel, das mich betrift, von mir als eine
Strafe angesehen werden müsse, und ich muß mich
auch in dieser Rücksicht prüfen; ob aber das nehm-
liche Uebel auch für andre eine Strafe sey, darüber
kann ich nur äußerst selten richtig urtheilen, wofern
ich nicht lieblos handeln will. Denn wie schrecklich

wür-
*) Joh. 3, 17.

XX. Betrachtung.
Grab finden, wenn ſie nicht zu ganz andern Geſin-
nungen und zu einem gebeſſerten Leben zurückkehren.
Bey allen dieſen Gelegenheiten wollte alſo Jeſus ſei-
ne Zeitgenoſſen vor liebloſen menſchenfeindlichen Ur-
theilen über ihre leidenden und unglücklichen Mitmen-
ſchen warnen, und ſie mehr zum Nachdenken über
ihren eigenen verderbten ſittlichen Zuſtand nach und
nach gewöhnen; er wollte auch dadurch zeigen, daß
er nicht gekommen ſey, die Welt zu richten, ſondern
die Welt ſelig zu machen.*)

Dies ſey denn nun auch uns eine Warnung vor
ſündlichen Urtheilen über ſolche Perſonen, die etwa
ein beſonderer Unglücksfall trift. Denn ein einſtür-
zender Thurm kann den Tugendhaften eben ſowohl
zermalmen, als den Sünder. Allgemeine Land-
plagen und einzelne Unglücksfälle können eben ſowohl
über den Frommen als über den Gottloſen kommen.
Nie will ich alſo über Diejenigen liebloſe und harte
Urtheile fällen, die vorzüglich leiden müſſen, oder
die ein ungewöhnlich hartes und trauriges Schickſal
betrift. Jch ſelbſt kann wohl wiſſen, ob dieſes oder
jenes Uebel, das mich betrift, von mir als eine
Strafe angeſehen werden müſſe, und ich muß mich
auch in dieſer Rückſicht prüfen; ob aber das nehm-
liche Uebel auch für andre eine Strafe ſey, darüber
kann ich nur äußerſt ſelten richtig urtheilen, wofern
ich nicht lieblos handeln will. Denn wie ſchrecklich

wür-
*) Joh. 3, 17.
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[126/0152] XX. Betrachtung. Grab finden, wenn ſie nicht zu ganz andern Geſin- nungen und zu einem gebeſſerten Leben zurückkehren. Bey allen dieſen Gelegenheiten wollte alſo Jeſus ſei- ne Zeitgenoſſen vor liebloſen menſchenfeindlichen Ur- theilen über ihre leidenden und unglücklichen Mitmen- ſchen warnen, und ſie mehr zum Nachdenken über ihren eigenen verderbten ſittlichen Zuſtand nach und nach gewöhnen; er wollte auch dadurch zeigen, daß er nicht gekommen ſey, die Welt zu richten, ſondern die Welt ſelig zu machen. *) Dies ſey denn nun auch uns eine Warnung vor ſündlichen Urtheilen über ſolche Perſonen, die etwa ein beſonderer Unglücksfall trift. Denn ein einſtür- zender Thurm kann den Tugendhaften eben ſowohl zermalmen, als den Sünder. Allgemeine Land- plagen und einzelne Unglücksfälle können eben ſowohl über den Frommen als über den Gottloſen kommen. Nie will ich alſo über Diejenigen liebloſe und harte Urtheile fällen, die vorzüglich leiden müſſen, oder die ein ungewöhnlich hartes und trauriges Schickſal betrift. Jch ſelbſt kann wohl wiſſen, ob dieſes oder jenes Uebel, das mich betrift, von mir als eine Strafe angeſehen werden müſſe, und ich muß mich auch in dieſer Rückſicht prüfen; ob aber das nehm- liche Uebel auch für andre eine Strafe ſey, darüber kann ich nur äußerſt ſelten richtig urtheilen, wofern ich nicht lieblos handeln will. Denn wie ſchrecklich wür- *) Joh. 3, 17.

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/152>, abgerufen am 22.11.2024.