Hefte Rechnung ablegen. Erschienen Lehrer und Lehrerinnen zum Besuche auf unserm Hofe, so muß- ten wir ihnen mit großer Freundlichkeit entgegen gehen und sie ehrerbietig einholen und gleich mit auf die Stube gehen, wo ein recht strenges Examen über Sitten und Leistungen abgehalten wurde. Erst dar- nach durften wir uns entfernen. Eben weil unsere Eltern eine große Liebe und Achtung gegen Lehrer und Lehrerinnen bewiesen, erschienen diese uns doppelt ehrwürdig.
Als ich später auf dem Gymnasium studirte, setzte der Vater dieselbe strenge Controle fort. Wenn ich in den Ferien zu Hause kam, wurde mir, ehe mir ein Stuhl angeboten und mein Gepäck abgenommen wurde, die Frage gestellt: Nun, wo ist dein Paß? Laß sehen, wie es auf demselben aussieht? Ich zog dann die Censur (d. i. Zeugniß) hervor, die er mit großem Ernste musterte und mit der vorhergehenden, von der er sich die Abschrift aufbewahrt hatte, ver- glich. Waren die Prädikate zu seiner Zufriedenheit, so war er ungemein froh und aufgeräumt. Einmal kam ich mit schwerem Herzen heim, weil die Censur also anfing: "Betragen: gut; der Schüler ist aber einmal wegen eines Vergehens bestraft." Mit zit- ternder Hand reichte ich sie meinem strengen Richter dar; denn ich fürchtete, wieder zurückgewiesen zu wer- den. Glücklicher Weise aber verlas er sich; er las statt "Vergehens" Versehens, in welchem Worte er eine Entschuldigung für den begangenen Fehler zu finden glaubte, und daher kam ich noch ziemlich glück- lich davon. - Meine Lehrer hatten mir längst meine Ehrfurcht vor meinem Vater abgemerkt, und wußten dieselbe sehr gut zu meinem Wohle dadurch zu be-
Hefte Rechnung ablegen. Erschienen Lehrer und Lehrerinnen zum Besuche auf unserm Hofe, so muß- ten wir ihnen mit großer Freundlichkeit entgegen gehen und sie ehrerbietig einholen und gleich mit auf die Stube gehen, wo ein recht strenges Examen über Sitten und Leistungen abgehalten wurde. Erst dar- nach durften wir uns entfernen. Eben weil unsere Eltern eine große Liebe und Achtung gegen Lehrer und Lehrerinnen bewiesen, erschienen diese uns doppelt ehrwürdig.
Als ich später auf dem Gymnasium studirte, setzte der Vater dieselbe strenge Controle fort. Wenn ich in den Ferien zu Hause kam, wurde mir, ehe mir ein Stuhl angeboten und mein Gepäck abgenommen wurde, die Frage gestellt: Nun, wo ist dein Paß? Laß sehen, wie es auf demselben aussieht? Ich zog dann die Censur (d. i. Zeugniß) hervor, die er mit großem Ernste musterte und mit der vorhergehenden, von der er sich die Abschrift aufbewahrt hatte, ver- glich. Waren die Prädikate zu seiner Zufriedenheit, so war er ungemein froh und aufgeräumt. Einmal kam ich mit schwerem Herzen heim, weil die Censur also anfing: „Betragen: gut; der Schüler ist aber einmal wegen eines Vergehens bestraft.“ Mit zit- ternder Hand reichte ich sie meinem strengen Richter dar; denn ich fürchtete, wieder zurückgewiesen zu wer- den. Glücklicher Weise aber verlas er sich; er las statt „Vergehens“ Versehens, in welchem Worte er eine Entschuldigung für den begangenen Fehler zu finden glaubte, und daher kam ich noch ziemlich glück- lich davon. – Meine Lehrer hatten mir längst meine Ehrfurcht vor meinem Vater abgemerkt, und wußten dieselbe sehr gut zu meinem Wohle dadurch zu be-
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Hefte Rechnung ablegen. Erschienen Lehrer und
Lehrerinnen zum Besuche auf unserm Hofe, so muß-
ten wir ihnen mit großer Freundlichkeit entgegen
gehen und sie ehrerbietig einholen und gleich mit auf
die Stube gehen, wo ein recht strenges Examen über
Sitten und Leistungen abgehalten wurde. Erst dar-
nach durften wir uns entfernen. Eben weil unsere
Eltern eine große Liebe und Achtung gegen Lehrer
und Lehrerinnen bewiesen, erschienen diese uns doppelt
ehrwürdig.
Als ich später auf dem Gymnasium studirte, setzte
der Vater dieselbe strenge Controle fort. Wenn ich
in den Ferien zu Hause kam, wurde mir, ehe mir
ein Stuhl angeboten und mein Gepäck abgenommen
wurde, die Frage gestellt: Nun, wo ist dein Paß?
Laß sehen, wie es auf demselben aussieht? Ich zog
dann die Censur (d. i. Zeugniß) hervor, die er mit
großem Ernste musterte und mit der vorhergehenden,
von der er sich die Abschrift aufbewahrt hatte, ver-
glich. Waren die Prädikate zu seiner Zufriedenheit,
so war er ungemein froh und aufgeräumt. Einmal
kam ich mit schwerem Herzen heim, weil die Censur
also anfing: „Betragen: gut; der Schüler ist aber
einmal wegen eines Vergehens bestraft.“ Mit zit-
ternder Hand reichte ich sie meinem strengen Richter
dar; denn ich fürchtete, wieder zurückgewiesen zu wer-
den. Glücklicher Weise aber verlas er sich; er las
statt „Vergehens“ Versehens, in welchem Worte er
eine Entschuldigung für den begangenen Fehler zu
finden glaubte, und daher kam ich noch ziemlich glück-
lich davon. – Meine Lehrer hatten mir längst meine
Ehrfurcht vor meinem Vater abgemerkt, und wußten
dieselbe sehr gut zu meinem Wohle dadurch zu be-
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Cramer, Wilhelm: Der christliche Vater wie er sein und was er thun soll. Nebst einem Anhange von Gebeten für denselben. Dülmen, 1874, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_mutter_1874/157>, abgerufen am 23.11.2024.
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