Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

noch Abscheu; würde ich niemals weder Liebe
noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em-
pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des
Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei-
ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner
Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines
Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä-
hig. Jch würde mich niemals einiger Laster
schuldig machen; aber ich wäre auch eben so un-
fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen.
Wäre ich bloß ein denkendes Wesen, so wäre ich
ein Spiegel, in dem sich tausend Bilder der vor
ihm befindlichen Gegenstände abweichen können,
ohne daß er dadurch die geringste Thätigkeit em-
pfängt, oder veranlaßt wird, auf sie zurück zu
wirken und diese oder jene Veränderung darinnen
hervorzubringen.

Meine Seele also ist ein Wesen, das den-
ken und wollen, oder nach seinen Gedanken und
Vorstellungen handeln kann, weit von dem We-
sen des Körpers unterschieden, ob es gleich man-
nichfaltige Kräfte besitzt, die in einer beständigen
Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge-
walt müssen nicht diejenigen, die bloß Körper
seyn wollen, sich selbst, ihrem innern Gefühle
und Bewußtseyn anthun, um diesen gewissen Un-

ter-

noch Abſcheu; würde ich niemals weder Liebe
noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em-
pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des
Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei-
ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner
Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines
Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä-
hig. Jch würde mich niemals einiger Laſter
ſchuldig machen; aber ich wäre auch eben ſo un-
fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen.
Wäre ich bloß ein denkendes Weſen, ſo wäre ich
ein Spiegel, in dem ſich tauſend Bilder der vor
ihm befindlichen Gegenſtände abweichen können,
ohne daß er dadurch die geringſte Thätigkeit em-
pfängt, oder veranlaßt wird, auf ſie zurück zu
wirken und dieſe oder jene Veränderung darinnen
hervorzubringen.

Meine Seele alſo iſt ein Weſen, das den-
ken und wollen, oder nach ſeinen Gedanken und
Vorſtellungen handeln kann, weit von dem We-
ſen des Körpers unterſchieden, ob es gleich man-
nichfaltige Kräfte beſitzt, die in einer beſtändigen
Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge-
walt müſſen nicht diejenigen, die bloß Körper
ſeyn wollen, ſich ſelbſt, ihrem innern Gefühle
und Bewußtſeyn anthun, um dieſen gewiſſen Un-

ter-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0310" n="296"/>
noch Ab&#x017F;cheu; würde ich niemals weder Liebe<lb/>
noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em-<lb/>
pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des<lb/>
Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei-<lb/>
ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner<lb/>
Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines<lb/>
Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä-<lb/>
hig. Jch würde mich niemals einiger La&#x017F;ter<lb/>
&#x017F;chuldig machen; aber ich wäre auch eben &#x017F;o un-<lb/>
fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen.<lb/>
Wäre ich bloß ein denkendes We&#x017F;en, &#x017F;o wäre ich<lb/>
ein Spiegel, in dem &#x017F;ich tau&#x017F;end Bilder der vor<lb/>
ihm befindlichen Gegen&#x017F;tände abweichen können,<lb/>
ohne daß er dadurch die gering&#x017F;te Thätigkeit em-<lb/>
pfängt, oder veranlaßt wird, auf &#x017F;ie zurück zu<lb/>
wirken und die&#x017F;e oder jene Veränderung darinnen<lb/>
hervorzubringen.</p><lb/>
        <p>Meine Seele al&#x017F;o i&#x017F;t ein We&#x017F;en, das den-<lb/>
ken und wollen, oder nach &#x017F;einen Gedanken und<lb/>
Vor&#x017F;tellungen handeln kann, weit von dem We-<lb/>
&#x017F;en des Körpers unter&#x017F;chieden, ob es gleich man-<lb/>
nichfaltige Kräfte be&#x017F;itzt, die in einer be&#x017F;tändigen<lb/>
Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge-<lb/>
walt mü&#x017F;&#x017F;en nicht diejenigen, die bloß Körper<lb/>
&#x017F;eyn wollen, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, ihrem innern Gefühle<lb/>
und Bewußt&#x017F;eyn anthun, um die&#x017F;en gewi&#x017F;&#x017F;en Un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ter-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0310] noch Abſcheu; würde ich niemals weder Liebe noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em- pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei- ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä- hig. Jch würde mich niemals einiger Laſter ſchuldig machen; aber ich wäre auch eben ſo un- fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen. Wäre ich bloß ein denkendes Weſen, ſo wäre ich ein Spiegel, in dem ſich tauſend Bilder der vor ihm befindlichen Gegenſtände abweichen können, ohne daß er dadurch die geringſte Thätigkeit em- pfängt, oder veranlaßt wird, auf ſie zurück zu wirken und dieſe oder jene Veränderung darinnen hervorzubringen. Meine Seele alſo iſt ein Weſen, das den- ken und wollen, oder nach ſeinen Gedanken und Vorſtellungen handeln kann, weit von dem We- ſen des Körpers unterſchieden, ob es gleich man- nichfaltige Kräfte beſitzt, die in einer beſtändigen Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge- walt müſſen nicht diejenigen, die bloß Körper ſeyn wollen, ſich ſelbſt, ihrem innern Gefühle und Bewußtſeyn anthun, um dieſen gewiſſen Un- ter-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/310
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/310>, abgerufen am 22.11.2024.