und nie verläugnen will, daß ich nicht der künst- liche wundervolle Körper sey, den ich bewohne, ob ich ihn gleich meinen Leib nenne, weil er von mir abhängt; weil ich auch oft in meinen Wir- kungen von ihm abhange; weil ich in ihm und durch ihn meine mannichfaltigen Kräfte wirken lassen, und mich seiner zu unzählbaren Verrichtun- gen bedienen kann. Jch bin es, und nicht mein Körper, ich, der ich denke, Vorstellungen, Em- pfindungen, Neigungen, Leidenschaften und Be- gierden habe. Mein Körper denkt nicht, urtheilt nicht, schließt nicht, überlegt nicht, wählt, has- set und liebet nicht; es ist ein andres Wesen, als dieser mein Leib, das alle diese Wirkungen her- vorbringt, und dieses Wesen bin ich; das ist meine Seele, mein edelster und vortrefflichster Theil. Jch bedarf des Leibes zu meinem Ver- gnügen, wie ich auch oft durch ihn leide. Er ist ein Spiegel, worinnen ich mich, die Welt, und selbst Gott erkennen kann; aber der Spiegel ist weit von dem unterschieden, der die darinnen ab- gebildeten Gegenstände betrachtet, eben so weit, als meine Seele von meinem Leibe unterschieden ist. Mein Körper ist von einer höchst veränderli- chen Natur; ein zusammengesetztes Wesen, von dem sich ohne Aufhören und mir unvermerkt tau- send Theile abreiben, losreißen, und erneuern;
ein
und nie verläugnen will, daß ich nicht der künſt- liche wundervolle Körper ſey, den ich bewohne, ob ich ihn gleich meinen Leib nenne, weil er von mir abhängt; weil ich auch oft in meinen Wir- kungen von ihm abhange; weil ich in ihm und durch ihn meine mannichfaltigen Kräfte wirken laſſen, und mich ſeiner zu unzählbaren Verrichtun- gen bedienen kann. Jch bin es, und nicht mein Körper, ich, der ich denke, Vorſtellungen, Em- pfindungen, Neigungen, Leidenſchaften und Be- gierden habe. Mein Körper denkt nicht, urtheilt nicht, ſchließt nicht, überlegt nicht, wählt, haſ- ſet und liebet nicht; es iſt ein andres Weſen, als dieſer mein Leib, das alle dieſe Wirkungen her- vorbringt, und dieſes Weſen bin ich; das iſt meine Seele, mein edelſter und vortrefflichſter Theil. Jch bedarf des Leibes zu meinem Ver- gnügen, wie ich auch oft durch ihn leide. Er iſt ein Spiegel, worinnen ich mich, die Welt, und ſelbſt Gott erkennen kann; aber der Spiegel iſt weit von dem unterſchieden, der die darinnen ab- gebildeten Gegenſtände betrachtet, eben ſo weit, als meine Seele von meinem Leibe unterſchieden iſt. Mein Körper iſt von einer höchſt veränderli- chen Natur; ein zuſammengeſetztes Weſen, von dem ſich ohne Aufhören und mir unvermerkt tau- ſend Theile abreiben, losreißen, und erneuern;
ein
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0302"n="288"/>
und nie verläugnen will, daß ich nicht der künſt-<lb/>
liche wundervolle Körper ſey, den ich bewohne,<lb/>
ob ich ihn gleich meinen Leib nenne, weil er von<lb/>
mir abhängt; weil ich auch oft in meinen Wir-<lb/>
kungen von ihm abhange; weil ich in ihm und<lb/>
durch ihn meine mannichfaltigen Kräfte wirken<lb/>
laſſen, und mich ſeiner zu unzählbaren Verrichtun-<lb/>
gen bedienen kann. Jch bin es, und nicht mein<lb/>
Körper, ich, der ich denke, Vorſtellungen, Em-<lb/>
pfindungen, Neigungen, Leidenſchaften und Be-<lb/>
gierden habe. Mein Körper denkt nicht, urtheilt<lb/>
nicht, ſchließt nicht, überlegt nicht, wählt, haſ-<lb/>ſet und liebet nicht; es iſt ein andres Weſen, als<lb/>
dieſer mein Leib, das alle dieſe Wirkungen her-<lb/>
vorbringt, und dieſes Weſen bin ich; das iſt<lb/>
meine Seele, mein edelſter und vortrefflichſter<lb/>
Theil. Jch bedarf des Leibes zu meinem Ver-<lb/>
gnügen, wie ich auch oft durch ihn leide. Er iſt<lb/>
ein Spiegel, worinnen ich mich, die Welt, und<lb/>ſelbſt Gott erkennen kann; aber der Spiegel iſt<lb/>
weit von dem unterſchieden, der die darinnen ab-<lb/>
gebildeten Gegenſtände betrachtet, eben ſo weit,<lb/>
als meine Seele von meinem Leibe unterſchieden<lb/>
iſt. Mein Körper iſt von einer höchſt veränderli-<lb/>
chen Natur; ein zuſammengeſetztes Weſen, von<lb/>
dem ſich ohne Aufhören und mir unvermerkt tau-<lb/>ſend Theile abreiben, losreißen, und erneuern;<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ein</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[288/0302]
und nie verläugnen will, daß ich nicht der künſt-
liche wundervolle Körper ſey, den ich bewohne,
ob ich ihn gleich meinen Leib nenne, weil er von
mir abhängt; weil ich auch oft in meinen Wir-
kungen von ihm abhange; weil ich in ihm und
durch ihn meine mannichfaltigen Kräfte wirken
laſſen, und mich ſeiner zu unzählbaren Verrichtun-
gen bedienen kann. Jch bin es, und nicht mein
Körper, ich, der ich denke, Vorſtellungen, Em-
pfindungen, Neigungen, Leidenſchaften und Be-
gierden habe. Mein Körper denkt nicht, urtheilt
nicht, ſchließt nicht, überlegt nicht, wählt, haſ-
ſet und liebet nicht; es iſt ein andres Weſen, als
dieſer mein Leib, das alle dieſe Wirkungen her-
vorbringt, und dieſes Weſen bin ich; das iſt
meine Seele, mein edelſter und vortrefflichſter
Theil. Jch bedarf des Leibes zu meinem Ver-
gnügen, wie ich auch oft durch ihn leide. Er iſt
ein Spiegel, worinnen ich mich, die Welt, und
ſelbſt Gott erkennen kann; aber der Spiegel iſt
weit von dem unterſchieden, der die darinnen ab-
gebildeten Gegenſtände betrachtet, eben ſo weit,
als meine Seele von meinem Leibe unterſchieden
iſt. Mein Körper iſt von einer höchſt veränderli-
chen Natur; ein zuſammengeſetztes Weſen, von
dem ſich ohne Aufhören und mir unvermerkt tau-
ſend Theile abreiben, losreißen, und erneuern;
ein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/302>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.