Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite



Erkenntniß Gottes gekommen, oder würde sie
wohl eine allgemeine Religion geworden seyn?
Die Abgötterey war zwar wegen ihrer Ceremo-
nien und Opfer sehr beschwerlich; aber sie ließ
auch in Ansehung der Sittenlehre dem menschli-
chen Herzen eine völlige Freyheit. Darum lies-
sen sich so wenig Menschen einfallen, daran zu
zweifeln und nach reinern Erkenntnissen von der
Gottheit zu trachten. Man grübelt nicht über
eine Religion, die unsern Neigungen günstig ist.
Nichts ist so ungeheuer, als die Abgötterey, und
nichts war auch für verderbte Menschen verführe-
rischer, als sie. Wie angenehm mußte es für
die Leidenschaften seyn, Götter, die denselben
unterworfen waren, anzubeten, und in ihrem
Beyspiele Gründe zur Rechtfertigung der aller-
größten Unordnungen zu finden! Die Religion
der Heiden unterdrückte das Laster so wenig, daß
sie vielmehr dasselbe vergötterte. Mit welchem
Vergnügen war überdieß der Dienst der Götzen
nicht begleitet! Die Ergetzlichkeiten, die Schau-
spiele, die Ueppigkeiten der Gastmale und andre
Ausschweifungen machten den vornehmsten Theil
desselben aus. Die Feste der Götter waren Spie-
le, und die Schamhaftigkeit mit den guten Sit-
ten war aus dem bürgerlichen Leben nicht mehr,
als aus den Geheimnissen der Religion verbannt.

Die



Erkenntniß Gottes gekommen, oder würde ſie
wohl eine allgemeine Religion geworden ſeyn?
Die Abgötterey war zwar wegen ihrer Ceremo-
nien und Opfer ſehr beſchwerlich; aber ſie ließ
auch in Anſehung der Sittenlehre dem menſchli-
chen Herzen eine völlige Freyheit. Darum lieſ-
ſen ſich ſo wenig Menſchen einfallen, daran zu
zweifeln und nach reinern Erkenntniſſen von der
Gottheit zu trachten. Man grübelt nicht über
eine Religion, die unſern Neigungen günſtig iſt.
Nichts iſt ſo ungeheuer, als die Abgötterey, und
nichts war auch für verderbte Menſchen verführe-
riſcher, als ſie. Wie angenehm mußte es für
die Leidenſchaften ſeyn, Götter, die denſelben
unterworfen waren, anzubeten, und in ihrem
Beyſpiele Gründe zur Rechtfertigung der aller-
größten Unordnungen zu finden! Die Religion
der Heiden unterdrückte das Laſter ſo wenig, daß
ſie vielmehr daſſelbe vergötterte. Mit welchem
Vergnügen war überdieß der Dienſt der Götzen
nicht begleitet! Die Ergetzlichkeiten, die Schau-
ſpiele, die Ueppigkeiten der Gaſtmale und andre
Ausſchweifungen machten den vornehmſten Theil
deſſelben aus. Die Feſte der Götter waren Spie-
le, und die Schamhaftigkeit mit den guten Sit-
ten war aus dem bürgerlichen Leben nicht mehr,
als aus den Geheimniſſen der Religion verbannt.

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0146" n="132"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Erkenntniß Gottes gekommen, oder würde &#x017F;ie<lb/>
wohl eine allgemeine Religion geworden &#x017F;eyn?<lb/>
Die Abgötterey war zwar wegen ihrer Ceremo-<lb/>
nien und Opfer &#x017F;ehr be&#x017F;chwerlich; aber &#x017F;ie ließ<lb/>
auch in An&#x017F;ehung der Sittenlehre dem men&#x017F;chli-<lb/>
chen Herzen eine völlige Freyheit. Darum lie&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;o wenig Men&#x017F;chen einfallen, daran zu<lb/>
zweifeln und nach reinern Erkenntni&#x017F;&#x017F;en von der<lb/>
Gottheit zu trachten. Man grübelt nicht über<lb/>
eine Religion, die un&#x017F;ern Neigungen gün&#x017F;tig i&#x017F;t.<lb/>
Nichts i&#x017F;t &#x017F;o ungeheuer, als die Abgötterey, und<lb/>
nichts war auch für verderbte Men&#x017F;chen verführe-<lb/>
ri&#x017F;cher, als &#x017F;ie. Wie angenehm mußte es für<lb/>
die Leiden&#x017F;chaften &#x017F;eyn, Götter, die den&#x017F;elben<lb/>
unterworfen waren, anzubeten, und in ihrem<lb/>
Bey&#x017F;piele Gründe zur Rechtfertigung der aller-<lb/>
größten Unordnungen zu finden! Die Religion<lb/>
der Heiden unterdrückte das La&#x017F;ter &#x017F;o wenig, daß<lb/>
&#x017F;ie vielmehr da&#x017F;&#x017F;elbe vergötterte. Mit welchem<lb/>
Vergnügen war überdieß der Dien&#x017F;t der Götzen<lb/>
nicht begleitet! Die Ergetzlichkeiten, die Schau-<lb/>
&#x017F;piele, die Ueppigkeiten der Ga&#x017F;tmale und andre<lb/>
Aus&#x017F;chweifungen machten den vornehm&#x017F;ten Theil<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben aus. Die Fe&#x017F;te der Götter waren Spie-<lb/>
le, und die Schamhaftigkeit mit den guten Sit-<lb/>
ten war aus dem bürgerlichen Leben nicht mehr,<lb/>
als aus den Geheimni&#x017F;&#x017F;en der Religion verbannt.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0146] Erkenntniß Gottes gekommen, oder würde ſie wohl eine allgemeine Religion geworden ſeyn? Die Abgötterey war zwar wegen ihrer Ceremo- nien und Opfer ſehr beſchwerlich; aber ſie ließ auch in Anſehung der Sittenlehre dem menſchli- chen Herzen eine völlige Freyheit. Darum lieſ- ſen ſich ſo wenig Menſchen einfallen, daran zu zweifeln und nach reinern Erkenntniſſen von der Gottheit zu trachten. Man grübelt nicht über eine Religion, die unſern Neigungen günſtig iſt. Nichts iſt ſo ungeheuer, als die Abgötterey, und nichts war auch für verderbte Menſchen verführe- riſcher, als ſie. Wie angenehm mußte es für die Leidenſchaften ſeyn, Götter, die denſelben unterworfen waren, anzubeten, und in ihrem Beyſpiele Gründe zur Rechtfertigung der aller- größten Unordnungen zu finden! Die Religion der Heiden unterdrückte das Laſter ſo wenig, daß ſie vielmehr daſſelbe vergötterte. Mit welchem Vergnügen war überdieß der Dienſt der Götzen nicht begleitet! Die Ergetzlichkeiten, die Schau- ſpiele, die Ueppigkeiten der Gaſtmale und andre Ausſchweifungen machten den vornehmſten Theil deſſelben aus. Die Feſte der Götter waren Spie- le, und die Schamhaftigkeit mit den guten Sit- ten war aus dem bürgerlichen Leben nicht mehr, als aus den Geheimniſſen der Religion verbannt. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/146
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/146>, abgerufen am 24.11.2024.