Vernunft begnadigt worden ist, nichts ohne ei- nen zuverläßigen und gewissen Grund glauben; aber ich will auch alles für wahr halten, was entweder mit einem unbetrüglichen Zeugnisse Gottes selbst, oder mit Gründen aus der Be- schaffenheit und Einrichtung derselben bestätigt ist; es mag mit den Wünschen meines Herzens und seiner Begierden übereinstimmen oder nicht!
Hüte dich also, meine Seele, vor aller Unredlichkeit in allen Untersuchungen der Reli- gion und eben so sehr vor Vermessenheit und Stolz. Verwirf keine Wahrheiten darum, weil es dir nicht möglich ist, sie völlig einzusehen; be- streite sie niemals mit den Schwierigkeiten, die du nicht ganz erklären und heben kannst. Errinnre dich der Einschränkung und der Ohnmacht deines Verstandes. Hat nicht selbst unter den endlichen Dingen jeder Gegenstand, der deine Aufmerk- samkeit auf sich zieht, seine helle und auch seine dunkle Seite? Jn welchen Wissenschaften giebt es nicht Unbegreiflichkeiten? Darf ich mich denn verwundern, wenn es in dem Unendlichen Tiefen giebt, die ich nicht ergründen kann? Weiß ich überdieß nicht, daß mir das, was mir heute dunkel ist, morgen hell und deutlich seyn mag? Meine Erkenntniß wird, wie lange ich auch mei-
ne
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Vernunft begnadigt worden iſt, nichts ohne ei- nen zuverläßigen und gewiſſen Grund glauben; aber ich will auch alles für wahr halten, was entweder mit einem unbetrüglichen Zeugniſſe Gottes ſelbſt, oder mit Gründen aus der Be- ſchaffenheit und Einrichtung derſelben beſtätigt iſt; es mag mit den Wünſchen meines Herzens und ſeiner Begierden übereinſtimmen oder nicht!
Hüte dich alſo, meine Seele, vor aller Unredlichkeit in allen Unterſuchungen der Reli- gion und eben ſo ſehr vor Vermeſſenheit und Stolz. Verwirf keine Wahrheiten darum, weil es dir nicht möglich iſt, ſie völlig einzuſehen; be- ſtreite ſie niemals mit den Schwierigkeiten, die du nicht ganz erklären und heben kannſt. Errinnre dich der Einſchränkung und der Ohnmacht deines Verſtandes. Hat nicht ſelbſt unter den endlichen Dingen jeder Gegenſtand, der deine Aufmerk- ſamkeit auf ſich zieht, ſeine helle und auch ſeine dunkle Seite? Jn welchen Wiſſenſchaften giebt es nicht Unbegreiflichkeiten? Darf ich mich denn verwundern, wenn es in dem Unendlichen Tiefen giebt, die ich nicht ergründen kann? Weiß ich überdieß nicht, daß mir das, was mir heute dunkel iſt, morgen hell und deutlich ſeyn mag? Meine Erkenntniß wird, wie lange ich auch mei-
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Vernunft begnadigt worden iſt, nichts ohne ei-
nen zuverläßigen und gewiſſen Grund glauben;
aber ich will auch alles für wahr halten, was
entweder mit einem unbetrüglichen Zeugniſſe
Gottes ſelbſt, oder mit Gründen aus der Be-
ſchaffenheit und Einrichtung derſelben beſtätigt
iſt; es mag mit den Wünſchen meines Herzens
und ſeiner Begierden übereinſtimmen oder nicht!
Hüte dich alſo, meine Seele, vor aller
Unredlichkeit in allen Unterſuchungen der Reli-
gion und eben ſo ſehr vor Vermeſſenheit und
Stolz. Verwirf keine Wahrheiten darum, weil
es dir nicht möglich iſt, ſie völlig einzuſehen; be-
ſtreite ſie niemals mit den Schwierigkeiten, die
du nicht ganz erklären und heben kannſt. Errinnre
dich der Einſchränkung und der Ohnmacht deines
Verſtandes. Hat nicht ſelbſt unter den endlichen
Dingen jeder Gegenſtand, der deine Aufmerk-
ſamkeit auf ſich zieht, ſeine helle und auch ſeine
dunkle Seite? Jn welchen Wiſſenſchaften giebt
es nicht Unbegreiflichkeiten? Darf ich mich denn
verwundern, wenn es in dem Unendlichen Tiefen
giebt, die ich nicht ergründen kann? Weiß ich
überdieß nicht, daß mir das, was mir heute
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Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/103>, abgerufen am 01.07.2024.
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