"Ganz zu verzichten -- das ist wohl aus psychologischen Gründen unmöglich ... Einige Nabel- schnüre dürfen wohl nicht reißen ..."
"Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämonisch schön .. dämonisch berauschend ... ich glaube fast: sogar auch in diesem Augenblicke .. Ja! Gewiß! Es kann Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf fallen .. und man läuft immer Gefahr, irgend einen Fuß oder irgend ein Genick zu brechen .. Aber warum soll man der menschlichen Natur immanenten Leichtsinn -- und nur er exportirt ja das Oel, welches die schaurig-groben Reibungen des Lebens verringert -- "tragisch" nennen, wie so viele alte und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf los! Mag's doch kommen, wie's will! Eine geradezu fanatische Lebenssehnsucht krampft sich manchmal in meinem Herzen zusammen. Es giebt ja namenlos viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ... ja!. ich weiß es recht gut .. Was die Armuth leidet, die nackte und die versteckte, -- es ist un- sagbar .. Der Mensch liebt das Vergleichungsverfahren. Das ist sein Grundelend. Ich wohnte einmal bei einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, weiter Nichts zu thun hatte, als Magd und Mutter zu spielen .. Unsereiner kann die Enge, die Monotonie, die Schmucklosigkeit, das grenzenlos Mechanisch-Mario- nettenhafte einer solchen Existenz gar nicht fassen. Und dabei diese Bedürfnißlosigkeit!. Es ist un-
8*
„Ganz zu verzichten — das iſt wohl aus pſychologiſchen Gründen unmöglich ... Einige Nabel- ſchnüre dürfen wohl nicht reißen ...“
„Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämoniſch ſchön .. dämoniſch berauſchend ... ich glaube faſt: ſogar auch in dieſem Augenblicke .. Ja! Gewiß! Es kann Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf fallen .. und man läuft immer Gefahr, irgend einen Fuß oder irgend ein Genick zu brechen .. Aber warum ſoll man der menſchlichen Natur immanenten Leichtſinn — und nur er exportirt ja das Oel, welches die ſchaurig-groben Reibungen des Lebens verringert — „tragiſch“ nennen, wie ſo viele alte und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf los! Mag's doch kommen, wie's will! Eine geradezu fanatiſche Lebensſehnſucht krampft ſich manchmal in meinem Herzen zuſammen. Es giebt ja namenlos viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ... ja!. ich weiß es recht gut .. Was die Armuth leidet, die nackte und die verſteckte, — es iſt un- ſagbar .. Der Menſch liebt das Vergleichungsverfahren. Das iſt ſein Grundelend. Ich wohnte einmal bei einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom frühen Morgen bis zum ſpäten Abend, weiter Nichts zu thun hatte, als Magd und Mutter zu ſpielen .. Unſereiner kann die Enge, die Monotonie, die Schmuckloſigkeit, das grenzenlos Mechaniſch-Mario- nettenhafte einer ſolchen Exiſtenz gar nicht faſſen. Und dabei dieſe Bedürfnißloſigkeit!. Es iſt un-
8*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0123"n="115"/><p>„<hirendition="#g">Ganz</hi> zu verzichten — das iſt wohl aus<lb/>
pſychologiſchen Gründen unmöglich ... Einige Nabel-<lb/>ſchnüre <hirendition="#g">dürfen</hi> wohl nicht reißen ...“</p><lb/><p>„Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr<lb/>
Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämoniſch<lb/>ſchön .. dämoniſch berauſchend ... ich glaube faſt: ſogar<lb/>
auch in dieſem Augenblicke .. Ja! Gewiß! Es kann<lb/>
Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf<lb/>
fallen .. und man läuft immer Gefahr, irgend einen<lb/>
Fuß oder irgend ein Genick zu brechen .. Aber warum<lb/>ſoll man der menſchlichen Natur immanenten<lb/>
Leichtſinn — und nur er exportirt ja das Oel,<lb/>
welches die ſchaurig-groben Reibungen des Lebens<lb/>
verringert —„tragiſch“ nennen, wie ſo viele alte<lb/>
und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf<lb/>
los! Mag's doch kommen, wie's will! Eine geradezu<lb/>
fanatiſche Lebensſehnſucht krampft ſich manchmal in<lb/>
meinem Herzen zuſammen. Es giebt ja namenlos<lb/>
viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ...<lb/>
ja!. ich weiß es recht gut .. Was die Armuth<lb/>
leidet, die nackte und die verſteckte, — es iſt un-<lb/>ſagbar .. Der Menſch liebt das Vergleichungsverfahren.<lb/>
Das iſt ſein Grundelend. Ich wohnte einmal bei<lb/>
einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom<lb/>
frühen Morgen bis zum ſpäten Abend, weiter Nichts<lb/>
zu thun hatte, als Magd und Mutter zu ſpielen ..<lb/>
Unſereiner kann die Enge, die Monotonie, die<lb/>
Schmuckloſigkeit, das grenzenlos Mechaniſch-Mario-<lb/>
nettenhafte einer ſolchen Exiſtenz gar nicht faſſen.<lb/>
Und dabei dieſe Bedürfnißloſigkeit!. Es iſt un-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">8*</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[115/0123]
„Ganz zu verzichten — das iſt wohl aus
pſychologiſchen Gründen unmöglich ... Einige Nabel-
ſchnüre dürfen wohl nicht reißen ...“
„Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr
Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämoniſch
ſchön .. dämoniſch berauſchend ... ich glaube faſt: ſogar
auch in dieſem Augenblicke .. Ja! Gewiß! Es kann
Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf
fallen .. und man läuft immer Gefahr, irgend einen
Fuß oder irgend ein Genick zu brechen .. Aber warum
ſoll man der menſchlichen Natur immanenten
Leichtſinn — und nur er exportirt ja das Oel,
welches die ſchaurig-groben Reibungen des Lebens
verringert — „tragiſch“ nennen, wie ſo viele alte
und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf
los! Mag's doch kommen, wie's will! Eine geradezu
fanatiſche Lebensſehnſucht krampft ſich manchmal in
meinem Herzen zuſammen. Es giebt ja namenlos
viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ...
ja!. ich weiß es recht gut .. Was die Armuth
leidet, die nackte und die verſteckte, — es iſt un-
ſagbar .. Der Menſch liebt das Vergleichungsverfahren.
Das iſt ſein Grundelend. Ich wohnte einmal bei
einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom
frühen Morgen bis zum ſpäten Abend, weiter Nichts
zu thun hatte, als Magd und Mutter zu ſpielen ..
Unſereiner kann die Enge, die Monotonie, die
Schmuckloſigkeit, das grenzenlos Mechaniſch-Mario-
nettenhafte einer ſolchen Exiſtenz gar nicht faſſen.
Und dabei dieſe Bedürfnißloſigkeit!. Es iſt un-
8*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/123>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.