Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_518.001
Und noch einmal macht der Fürst der Welt einen Versuch auf p2c_518.002
die Menschheit des Sohnes Gottes. Er tritt zu ihm, der p2c_518.003
Verführer, stellt ihn auf einen hohen Berg und zeigt ihm p2c_518.004
alle Reiche der ganzen Erde in einem Augenblicke. "Bete p2c_518.005
mich an, sagt er zu ihm, so soll alles dein seyn." - Aber p2c_518.006
Jesus verschmäht das Reich eines weltlichen Messias, das p2c_518.007
die Juden erwarteten, und antwortet: "Es steht geschrieben, p2c_518.008
du sollt Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen." p2c_518.009
Und mit diesem Entschlusse wird er sich ganz der p2c_518.010
eigenen Gottheit bewußt. "Es steht geschrieben, sagt er p2c_518.011
zum Satan, du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen." p2c_518.012
Von nun an fühlt er, daß seine Stunde gekommen ist, von p2c_518.013
nun an zeigt sich nur Gott in seiner reinen Seele. Er tritt p2c_518.014
in die Welt, allein auf gegen die Welt, mit vollem Bewußtseyn p2c_518.015
seiner göttlichen Freyheit, mit vollem Bewußtseyn, p2c_518.016
daß er gekommen sey in dies Chaos der irdischen Geister, p2c_518.017
der neue moralische Schöpfer zu werden, die bange p2c_518.018
Hemmung in den Gemüthern, die Schranken zwischen den p2c_518.019
Seelen aufzuheben, und mit dem Hauche der Liebe die Erde p2c_518.020
von neuem zu beleben. Als Gott kann er die von Gott verlaßne p2c_518.021
Menschheit nicht achten, als ihr neuer Schöpfer muß p2c_518.022
er sie lieben, indem er in ihr den Wiederschein seiner eignen p2c_518.023
Gesetzlichkeit ahnet. Er weiß es, daß in ihm der Urgeist p2c_518.024
ist, der Himmel und Erde bewegt, er weiß es, daß p2c_518.025
er eher war, denn Abraham, daß er eine Herrlichkeit bey p2c_518.026
Gott hatte, ehe denn die Welt war, daß durch ihn alle p2c_518.027
Dinge geworden sind. Den Gott, den die Propheten nur p2c_518.028
außer sich ahneten, den die Menschen nur dem Namen nach

p2c_518.001
Und noch einmal macht der Fürst der Welt einen Versuch auf p2c_518.002
die Menschheit des Sohnes Gottes. Er tritt zu ihm, der p2c_518.003
Verführer, stellt ihn auf einen hohen Berg und zeigt ihm p2c_518.004
alle Reiche der ganzen Erde in einem Augenblicke. „Bete p2c_518.005
mich an, sagt er zu ihm, so soll alles dein seyn.“ ─ Aber p2c_518.006
Jesus verschmäht das Reich eines weltlichen Messias, das p2c_518.007
die Juden erwarteten, und antwortet: „Es steht geschrieben, p2c_518.008
du sollt Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen.“ p2c_518.009
Und mit diesem Entschlusse wird er sich ganz der p2c_518.010
eigenen Gottheit bewußt. „Es steht geschrieben, sagt er p2c_518.011
zum Satan, du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.“ p2c_518.012
Von nun an fühlt er, daß seine Stunde gekommen ist, von p2c_518.013
nun an zeigt sich nur Gott in seiner reinen Seele. Er tritt p2c_518.014
in die Welt, allein auf gegen die Welt, mit vollem Bewußtseyn p2c_518.015
seiner göttlichen Freyheit, mit vollem Bewußtseyn, p2c_518.016
daß er gekommen sey in dies Chaos der irdischen Geister, p2c_518.017
der neue moralische Schöpfer zu werden, die bange p2c_518.018
Hemmung in den Gemüthern, die Schranken zwischen den p2c_518.019
Seelen aufzuheben, und mit dem Hauche der Liebe die Erde p2c_518.020
von neuem zu beleben. Als Gott kann er die von Gott verlaßne p2c_518.021
Menschheit nicht achten, als ihr neuer Schöpfer muß p2c_518.022
er sie lieben, indem er in ihr den Wiederschein seiner eignen p2c_518.023
Gesetzlichkeit ahnet. Er weiß es, daß in ihm der Urgeist p2c_518.024
ist, der Himmel und Erde bewegt, er weiß es, daß p2c_518.025
er eher war, denn Abraham, daß er eine Herrlichkeit bey p2c_518.026
Gott hatte, ehe denn die Welt war, daß durch ihn alle p2c_518.027
Dinge geworden sind. Den Gott, den die Propheten nur p2c_518.028
außer sich ahneten, den die Menschen nur dem Namen nach

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0042" n="518"/><lb n="p2c_518.001"/>
Und noch einmal macht der Fürst der Welt einen Versuch auf <lb n="p2c_518.002"/>
die Menschheit des Sohnes Gottes. Er tritt zu ihm, der <lb n="p2c_518.003"/>
Verführer, stellt ihn auf einen hohen Berg und zeigt ihm <lb n="p2c_518.004"/>
alle Reiche der ganzen Erde in einem Augenblicke. &#x201E;Bete <lb n="p2c_518.005"/>
mich an, sagt er zu ihm, so soll alles dein seyn.&#x201C; &#x2500; Aber <lb n="p2c_518.006"/>
Jesus verschmäht das Reich eines weltlichen Messias, das <lb n="p2c_518.007"/>
die Juden erwarteten, und antwortet: &#x201E;Es steht geschrieben, <lb n="p2c_518.008"/>
du sollt Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen.&#x201C; <lb n="p2c_518.009"/>
Und mit diesem Entschlusse wird er sich ganz der <lb n="p2c_518.010"/>
eigenen Gottheit bewußt. &#x201E;Es steht geschrieben, sagt er <lb n="p2c_518.011"/>
zum Satan, du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.&#x201C; <lb n="p2c_518.012"/>
Von nun an fühlt er, daß seine Stunde gekommen ist, von <lb n="p2c_518.013"/>
nun an zeigt sich nur Gott in seiner reinen Seele. Er tritt <lb n="p2c_518.014"/>
in die Welt, allein auf gegen die Welt, mit vollem Bewußtseyn <lb n="p2c_518.015"/>
seiner göttlichen Freyheit, mit vollem Bewußtseyn, <lb n="p2c_518.016"/>
daß er gekommen sey in dies Chaos der irdischen Geister, <lb n="p2c_518.017"/>
der neue moralische Schöpfer zu werden, die bange <lb n="p2c_518.018"/>
Hemmung in den Gemüthern, die Schranken zwischen den <lb n="p2c_518.019"/>
Seelen aufzuheben, und mit dem Hauche der Liebe die Erde <lb n="p2c_518.020"/>
von neuem zu beleben. Als Gott kann er die von Gott verlaßne <lb n="p2c_518.021"/>
Menschheit nicht <hi rendition="#g">achten,</hi> als ihr neuer Schöpfer muß <lb n="p2c_518.022"/>
er sie <hi rendition="#g">lieben,</hi> indem er in ihr den Wiederschein seiner eignen <lb n="p2c_518.023"/>
Gesetzlichkeit ahnet. Er weiß es, daß in ihm der Urgeist <lb n="p2c_518.024"/>
ist, der Himmel und Erde bewegt, er weiß es, daß <lb n="p2c_518.025"/>
er eher war, denn Abraham, daß er eine Herrlichkeit bey <lb n="p2c_518.026"/>
Gott hatte, ehe denn die Welt war, daß durch ihn alle <lb n="p2c_518.027"/>
Dinge geworden sind. Den Gott, den die Propheten nur <lb n="p2c_518.028"/>
außer sich ahneten, den die Menschen nur dem Namen nach
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[518/0042] p2c_518.001 Und noch einmal macht der Fürst der Welt einen Versuch auf p2c_518.002 die Menschheit des Sohnes Gottes. Er tritt zu ihm, der p2c_518.003 Verführer, stellt ihn auf einen hohen Berg und zeigt ihm p2c_518.004 alle Reiche der ganzen Erde in einem Augenblicke. „Bete p2c_518.005 mich an, sagt er zu ihm, so soll alles dein seyn.“ ─ Aber p2c_518.006 Jesus verschmäht das Reich eines weltlichen Messias, das p2c_518.007 die Juden erwarteten, und antwortet: „Es steht geschrieben, p2c_518.008 du sollt Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen.“ p2c_518.009 Und mit diesem Entschlusse wird er sich ganz der p2c_518.010 eigenen Gottheit bewußt. „Es steht geschrieben, sagt er p2c_518.011 zum Satan, du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.“ p2c_518.012 Von nun an fühlt er, daß seine Stunde gekommen ist, von p2c_518.013 nun an zeigt sich nur Gott in seiner reinen Seele. Er tritt p2c_518.014 in die Welt, allein auf gegen die Welt, mit vollem Bewußtseyn p2c_518.015 seiner göttlichen Freyheit, mit vollem Bewußtseyn, p2c_518.016 daß er gekommen sey in dies Chaos der irdischen Geister, p2c_518.017 der neue moralische Schöpfer zu werden, die bange p2c_518.018 Hemmung in den Gemüthern, die Schranken zwischen den p2c_518.019 Seelen aufzuheben, und mit dem Hauche der Liebe die Erde p2c_518.020 von neuem zu beleben. Als Gott kann er die von Gott verlaßne p2c_518.021 Menschheit nicht achten, als ihr neuer Schöpfer muß p2c_518.022 er sie lieben, indem er in ihr den Wiederschein seiner eignen p2c_518.023 Gesetzlichkeit ahnet. Er weiß es, daß in ihm der Urgeist p2c_518.024 ist, der Himmel und Erde bewegt, er weiß es, daß p2c_518.025 er eher war, denn Abraham, daß er eine Herrlichkeit bey p2c_518.026 Gott hatte, ehe denn die Welt war, daß durch ihn alle p2c_518.027 Dinge geworden sind. Den Gott, den die Propheten nur p2c_518.028 außer sich ahneten, den die Menschen nur dem Namen nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/42
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/42>, abgerufen am 23.11.2024.