Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_777.001 p2c_777.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0301" n="777"/><lb n="p2c_777.001"/> Menschen eher zu <hi rendition="#g">empören</hi> als zu beruhigen. Sie will <lb n="p2c_777.002"/> ihn von der sichtbaren Natur entfernt halten. Sie will alle <lb n="p2c_777.003"/> Bande, die ihn an sie knüpfen zerreißen, damit er sich einer <lb n="p2c_777.004"/> höhern idealen Natur, die in ihm selbst ist, in die Arme <lb n="p2c_777.005"/> werfe. Die <hi rendition="#g">neuere</hi> Poesie bringt also nicht <hi rendition="#g">Harmonie,</hi> <lb n="p2c_777.006"/> sondern <hi rendition="#g">Contraste</hi> hervor, um aus diesen Contrasten <lb n="p2c_777.007"/> eine höhere Harmonie einst hervorgehn zu lassen. Darum <lb n="p2c_777.008"/> stellt sie gern das gestaltlose Zeitalter der <hi rendition="#g">Cultur</hi> dar, <lb n="p2c_777.009"/> weil sich der Mensch in demselben mit sich selbst, mit seiner <lb n="p2c_777.010"/> Sinnlichkeit in Entzweyung befindet, weil er darinnen <lb n="p2c_777.011"/> kämpft, um das religiöse Prinzip zu erringen. Darum <lb n="p2c_777.012"/> zeigt sie den <hi rendition="#g">Menschen</hi> immer auf der einen Seite in der <lb n="p2c_777.013"/> tiefsten Verderbniß und Erniedrigung, auf der andern als <lb n="p2c_777.014"/> ein Wesen, das auf eine gottähnliche Jdealität Anspruch zu <lb n="p2c_777.015"/> machen hat. Die <hi rendition="#g">alte</hi> Poesie beginnt mit dem <hi rendition="#g">naiven,</hi> <lb n="p2c_777.016"/> weil sie nur allein die <hi rendition="#g">Jdealität</hi> der instinctmäßigen <lb n="p2c_777.017"/> <hi rendition="#g">Natur</hi> fühlt. Alle übrigen Empfindungen des niedern <lb n="p2c_777.018"/> und höhern Schönen modifiziren sich nach jener herrschenden <lb n="p2c_777.019"/> Hauptempfindung. Jn den <hi rendition="#g">Helden</hi> der Alten findet <lb n="p2c_777.020"/> man, wie wir oben aus Beyspielen ersehn haben, <hi rendition="#g">Naivität</hi> <lb n="p2c_777.021"/> mit <hi rendition="#g">Hoheit</hi> verbunden, Naivität in der Heftigkeit <lb n="p2c_777.022"/> u. s. w. Das höhere Schöne ist nie ganz getrennt von dem <lb n="p2c_777.023"/> niedern Schönen. Die alten Dichter sind des Großen, <lb n="p2c_777.024"/> Starken, Heftigen, <hi rendition="#g">Hohen</hi> fähig. Nur das <hi rendition="#g">himmlisch <lb n="p2c_777.025"/> erhabene,</hi> wie schon von uns bemerkt worden ist, fehlt <lb n="p2c_777.026"/> ihnen ganz und muß ihnen fehlen, weil die Alten die unsichtbare <lb n="p2c_777.027"/> Welt des Geistes, und ihre Harmonie mit der <lb n="p2c_777.028"/> Natur, nach geschehener Trennung von der Natur nicht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [777/0301]
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Menschen eher zu empören als zu beruhigen. Sie will p2c_777.002
ihn von der sichtbaren Natur entfernt halten. Sie will alle p2c_777.003
Bande, die ihn an sie knüpfen zerreißen, damit er sich einer p2c_777.004
höhern idealen Natur, die in ihm selbst ist, in die Arme p2c_777.005
werfe. Die neuere Poesie bringt also nicht Harmonie, p2c_777.006
sondern Contraste hervor, um aus diesen Contrasten p2c_777.007
eine höhere Harmonie einst hervorgehn zu lassen. Darum p2c_777.008
stellt sie gern das gestaltlose Zeitalter der Cultur dar, p2c_777.009
weil sich der Mensch in demselben mit sich selbst, mit seiner p2c_777.010
Sinnlichkeit in Entzweyung befindet, weil er darinnen p2c_777.011
kämpft, um das religiöse Prinzip zu erringen. Darum p2c_777.012
zeigt sie den Menschen immer auf der einen Seite in der p2c_777.013
tiefsten Verderbniß und Erniedrigung, auf der andern als p2c_777.014
ein Wesen, das auf eine gottähnliche Jdealität Anspruch zu p2c_777.015
machen hat. Die alte Poesie beginnt mit dem naiven, p2c_777.016
weil sie nur allein die Jdealität der instinctmäßigen p2c_777.017
Natur fühlt. Alle übrigen Empfindungen des niedern p2c_777.018
und höhern Schönen modifiziren sich nach jener herrschenden p2c_777.019
Hauptempfindung. Jn den Helden der Alten findet p2c_777.020
man, wie wir oben aus Beyspielen ersehn haben, Naivität p2c_777.021
mit Hoheit verbunden, Naivität in der Heftigkeit p2c_777.022
u. s. w. Das höhere Schöne ist nie ganz getrennt von dem p2c_777.023
niedern Schönen. Die alten Dichter sind des Großen, p2c_777.024
Starken, Heftigen, Hohen fähig. Nur das himmlisch p2c_777.025
erhabene, wie schon von uns bemerkt worden ist, fehlt p2c_777.026
ihnen ganz und muß ihnen fehlen, weil die Alten die unsichtbare p2c_777.027
Welt des Geistes, und ihre Harmonie mit der p2c_777.028
Natur, nach geschehener Trennung von der Natur nicht
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