Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_499.001
Sinne nicht statt finden kann, muß er sich ursprünglich p2c_499.002
verachten. Mit einem Worte, das moraliche Gewissen p2c_499.003
allein als bloße Anforderung sich in das gesetzliche Wesen p2c_499.004
aufnehmen zu lassen, ohne den Glauben an eine erfolgte p2c_499.005
Aufnahme, muß a posteriori in der empirischen Psychologie p2c_499.006
als ein Uebel, als eine nothwendige Strafe dafür angesehen p2c_499.007
werden, daß der Mensch sich gegen die Naturgesetze p2c_499.008
auflehnte. Allein nach der religiösen Weltgeschichte ließ p2c_499.009
Gott die Menschen fallen und in ihren eigenen Augen verächtlich p2c_499.010
werden, um sie nun desto höher zu erheben. Es p2c_499.011
bedurfte in der Geschichte der Seelen eines feierlichen Akts p2c_499.012
der Versöhnung. Es mußte die menschliche Natur p2c_499.013
in der Erscheinungswelt der göttlichen einmal vollkommen p2c_499.014
genug thun. Dieses war nicht anders möglich, p2c_499.015
als daß sich die göttliche mit ihr vereinigte. Denn Gott p2c_499.016
kann nur Gott genug thun. Jndem der Mensch die p2c_499.017
Versöhnung annahm, indem er glaubte, daß die p2c_499.018
strenge Tugend, die göttliche Freyheit, mit voller Consequenz p2c_499.019
in Menschengestalt gewohnt, daß Ein Mensch dem p2c_499.020
niedern Leben ganz entsagt, und Gott allein gelebt habe, p2c_499.021
lernte er auch an sich selbst, an die Möglichkeit seiner Erhöhung p2c_499.022
glauben. Das moralische Gewissen durfte ihn p2c_499.023
nun nicht mehr ursprünglich verdammen. Er setzte ihr die p2c_499.024
ästhetische Evidenz entgegen, daß Gott mit der p2c_499.025
Menschheit vereinigt gewesen sey, daß Gott die Menschheit p2c_499.026
ganz in sich aufgenommen habe. Das Gesetz war erfüllt, p2c_499.027
die Strafe hinweg genommen, und an die Stelle des Gesetzes p2c_499.028
trat der Glaube. Der Mensch lernte den furchtbaren

p2c_499.001
Sinne nicht statt finden kann, muß er sich ursprünglich p2c_499.002
verachten. Mit einem Worte, das moraliche Gewissen p2c_499.003
allein als bloße Anforderung sich in das gesetzliche Wesen p2c_499.004
aufnehmen zu lassen, ohne den Glauben an eine erfolgte p2c_499.005
Aufnahme, muß a posteriori in der empirischen Psychologie p2c_499.006
als ein Uebel, als eine nothwendige Strafe dafür angesehen p2c_499.007
werden, daß der Mensch sich gegen die Naturgesetze p2c_499.008
auflehnte. Allein nach der religiösen Weltgeschichte ließ p2c_499.009
Gott die Menschen fallen und in ihren eigenen Augen verächtlich p2c_499.010
werden, um sie nun desto höher zu erheben. Es p2c_499.011
bedurfte in der Geschichte der Seelen eines feierlichen Akts p2c_499.012
der Versöhnung. Es mußte die menschliche Natur p2c_499.013
in der Erscheinungswelt der göttlichen einmal vollkommen p2c_499.014
genug thun. Dieses war nicht anders möglich, p2c_499.015
als daß sich die göttliche mit ihr vereinigte. Denn Gott p2c_499.016
kann nur Gott genug thun. Jndem der Mensch die p2c_499.017
Versöhnung annahm, indem er glaubte, daß die p2c_499.018
strenge Tugend, die göttliche Freyheit, mit voller Consequenz p2c_499.019
in Menschengestalt gewohnt, daß Ein Mensch dem p2c_499.020
niedern Leben ganz entsagt, und Gott allein gelebt habe, p2c_499.021
lernte er auch an sich selbst, an die Möglichkeit seiner Erhöhung p2c_499.022
glauben. Das moralische Gewissen durfte ihn p2c_499.023
nun nicht mehr ursprünglich verdammen. Er setzte ihr die p2c_499.024
ästhetische Evidenz entgegen, daß Gott mit der p2c_499.025
Menschheit vereinigt gewesen sey, daß Gott die Menschheit p2c_499.026
ganz in sich aufgenommen habe. Das Gesetz war erfüllt, p2c_499.027
die Strafe hinweg genommen, und an die Stelle des Gesetzes p2c_499.028
trat der Glaube. Der Mensch lernte den furchtbaren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0023" n="499"/><lb n="p2c_499.001"/>
Sinne nicht statt finden kann, muß er sich ursprünglich <lb n="p2c_499.002"/>
verachten. Mit einem Worte, das moraliche Gewissen <lb n="p2c_499.003"/>
allein als bloße Anforderung sich in das gesetzliche Wesen <lb n="p2c_499.004"/>
aufnehmen zu lassen, ohne den Glauben an eine erfolgte <lb n="p2c_499.005"/>
Aufnahme, muß <hi rendition="#aq">a posteriori</hi> in der empirischen Psychologie <lb n="p2c_499.006"/>
als ein Uebel, als eine nothwendige Strafe dafür angesehen <lb n="p2c_499.007"/>
werden, daß der Mensch sich gegen die Naturgesetze <lb n="p2c_499.008"/>
auflehnte. Allein nach der religiösen Weltgeschichte ließ <lb n="p2c_499.009"/>
Gott die Menschen <hi rendition="#g">fallen</hi> und in ihren eigenen Augen verächtlich <lb n="p2c_499.010"/>
werden, um sie nun desto höher zu erheben. Es <lb n="p2c_499.011"/>
bedurfte in der Geschichte der Seelen eines feierlichen Akts <lb n="p2c_499.012"/>
der <hi rendition="#g">Versöhnung.</hi> Es mußte die <hi rendition="#g">menschliche Natur</hi> <lb n="p2c_499.013"/>
in der Erscheinungswelt der <hi rendition="#g">göttlichen</hi> einmal vollkommen <lb n="p2c_499.014"/> <hi rendition="#g">genug thun.</hi> Dieses war nicht anders möglich, <lb n="p2c_499.015"/>
als daß sich die <hi rendition="#g">göttliche</hi> mit ihr vereinigte. Denn <hi rendition="#g">Gott</hi> <lb n="p2c_499.016"/>
kann nur Gott <hi rendition="#g">genug thun.</hi> Jndem der Mensch die <lb n="p2c_499.017"/> <hi rendition="#g">Versöhnung</hi> annahm, indem er <hi rendition="#g">glaubte,</hi> daß die <lb n="p2c_499.018"/>
strenge Tugend, die göttliche Freyheit, mit voller Consequenz <lb n="p2c_499.019"/>
in Menschengestalt gewohnt, daß <hi rendition="#g">Ein Mensch</hi> dem <lb n="p2c_499.020"/>
niedern Leben ganz entsagt, und Gott allein gelebt habe, <lb n="p2c_499.021"/>
lernte er auch an sich selbst, an die Möglichkeit seiner Erhöhung <lb n="p2c_499.022"/>
glauben. Das <hi rendition="#g">moralische</hi> Gewissen durfte ihn <lb n="p2c_499.023"/>
nun nicht mehr ursprünglich verdammen. Er setzte ihr die <lb n="p2c_499.024"/> <hi rendition="#g">ästhetische Evidenz</hi> entgegen, daß Gott mit der <lb n="p2c_499.025"/>
Menschheit vereinigt gewesen sey, daß Gott die Menschheit <lb n="p2c_499.026"/>
ganz in sich aufgenommen habe. Das <hi rendition="#g">Gesetz</hi> war erfüllt, <lb n="p2c_499.027"/>
die Strafe hinweg genommen, und an die Stelle des Gesetzes     <lb n="p2c_499.028"/>
trat der <hi rendition="#g">Glaube.</hi> Der Mensch lernte den furchtbaren
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[499/0023] p2c_499.001 Sinne nicht statt finden kann, muß er sich ursprünglich p2c_499.002 verachten. Mit einem Worte, das moraliche Gewissen p2c_499.003 allein als bloße Anforderung sich in das gesetzliche Wesen p2c_499.004 aufnehmen zu lassen, ohne den Glauben an eine erfolgte p2c_499.005 Aufnahme, muß a posteriori in der empirischen Psychologie p2c_499.006 als ein Uebel, als eine nothwendige Strafe dafür angesehen p2c_499.007 werden, daß der Mensch sich gegen die Naturgesetze p2c_499.008 auflehnte. Allein nach der religiösen Weltgeschichte ließ p2c_499.009 Gott die Menschen fallen und in ihren eigenen Augen verächtlich p2c_499.010 werden, um sie nun desto höher zu erheben. Es p2c_499.011 bedurfte in der Geschichte der Seelen eines feierlichen Akts p2c_499.012 der Versöhnung. Es mußte die menschliche Natur p2c_499.013 in der Erscheinungswelt der göttlichen einmal vollkommen p2c_499.014 genug thun. Dieses war nicht anders möglich, p2c_499.015 als daß sich die göttliche mit ihr vereinigte. Denn Gott p2c_499.016 kann nur Gott genug thun. Jndem der Mensch die p2c_499.017 Versöhnung annahm, indem er glaubte, daß die p2c_499.018 strenge Tugend, die göttliche Freyheit, mit voller Consequenz p2c_499.019 in Menschengestalt gewohnt, daß Ein Mensch dem p2c_499.020 niedern Leben ganz entsagt, und Gott allein gelebt habe, p2c_499.021 lernte er auch an sich selbst, an die Möglichkeit seiner Erhöhung p2c_499.022 glauben. Das moralische Gewissen durfte ihn p2c_499.023 nun nicht mehr ursprünglich verdammen. Er setzte ihr die p2c_499.024 ästhetische Evidenz entgegen, daß Gott mit der p2c_499.025 Menschheit vereinigt gewesen sey, daß Gott die Menschheit p2c_499.026 ganz in sich aufgenommen habe. Das Gesetz war erfüllt, p2c_499.027 die Strafe hinweg genommen, und an die Stelle des Gesetzes p2c_499.028 trat der Glaube. Der Mensch lernte den furchtbaren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/23
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/23>, abgerufen am 23.11.2024.