Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_498.001
nun sich selbst überlassen, wagte mit menschlicher Klugheit p2c_498.002
seine Thierheit zu lenken und eigenmächtige Eingriffe in das p2c_498.003
Meisterwerk der Natur zu thun, blieb ihr ewiges unglückliches p2c_498.004
Spielwerk, und vermochte sich nicht einmal mit dem p2c_498.005
Verstande von seiner Selbstbestimmung zu überzeugen. Er p2c_498.006
stand also getrennt von dem moralischen Gesetzgeber, p2c_498.007
dessen Heiligkeit ihn unaufhörlich verdammte, den er umsonst p2c_498.008
durch Opfer zu versühnen suchte. Er war sich des Guten p2c_498.009
als einer ihm vorgeschriebenen Richtschnur bewußt, aber er p2c_498.010
fand in dem Guten keine Freude, und die Freuden des Jnstinkts p2c_498.011
waren für ihn nicht schuldlos mehr. Er ward ein p2c_498.012
Knecht des furchtbaren Gottes in der höhern Sphäre, in p2c_498.013
welche er durch das Schicksal hinaufgerissen war, in welcher p2c_498.014
er sich nicht behaupten konnte. Der stolze Trieb nach p2c_498.015
Selbstbestimmung, verbunden mit Sinnlichkeit, zeigt also p2c_498.016
den Menschen, der sich der höhern Moralität bewußt wird, p2c_498.017
in der Erscheinungswelt als ein unvollkommnes mit der Erbsünde p2c_498.018
behaftetes Wesen. Der heilige Gott steht dagegen p2c_498.019
von ihm getrennt, mit einer unerbittlichen Strenge, der p2c_498.020
nicht genug gethan werden kann, wie denn auch die neuere p2c_498.021
Moralphilosophie, weil sie auf eben diesem Gesichtspunkte p2c_498.022
stehen geblieben ist, das radicale Böse behauptet, und den p2c_498.023
Kontrast zwischen der Heiligkeit Gottes und der menschlichen p2c_498.024
Verkehrtheit oder Schwäche nicht aufzuheben vermag. p2c_498.025
Denn sobald der Mensch den Schein der Selbstbestimmung p2c_498.026
zu erlangen sucht, und sich als ein von der Natur getrenntes p2c_498.027
Wesen betrachtet, erklärt er sich auch fähig der Jmputation, p2c_498.028
und dieser Jmputation nach, wiewohl sie im eigentlichen

p2c_498.001
nun sich selbst überlassen, wagte mit menschlicher Klugheit p2c_498.002
seine Thierheit zu lenken und eigenmächtige Eingriffe in das p2c_498.003
Meisterwerk der Natur zu thun, blieb ihr ewiges unglückliches p2c_498.004
Spielwerk, und vermochte sich nicht einmal mit dem p2c_498.005
Verstande von seiner Selbstbestimmung zu überzeugen. Er p2c_498.006
stand also getrennt von dem moralischen Gesetzgeber, p2c_498.007
dessen Heiligkeit ihn unaufhörlich verdammte, den er umsonst p2c_498.008
durch Opfer zu versühnen suchte. Er war sich des Guten p2c_498.009
als einer ihm vorgeschriebenen Richtschnur bewußt, aber er p2c_498.010
fand in dem Guten keine Freude, und die Freuden des Jnstinkts p2c_498.011
waren für ihn nicht schuldlos mehr. Er ward ein p2c_498.012
Knecht des furchtbaren Gottes in der höhern Sphäre, in p2c_498.013
welche er durch das Schicksal hinaufgerissen war, in welcher p2c_498.014
er sich nicht behaupten konnte. Der stolze Trieb nach p2c_498.015
Selbstbestimmung, verbunden mit Sinnlichkeit, zeigt also p2c_498.016
den Menschen, der sich der höhern Moralität bewußt wird, p2c_498.017
in der Erscheinungswelt als ein unvollkommnes mit der Erbsünde p2c_498.018
behaftetes Wesen. Der heilige Gott steht dagegen p2c_498.019
von ihm getrennt, mit einer unerbittlichen Strenge, der p2c_498.020
nicht genug gethan werden kann, wie denn auch die neuere p2c_498.021
Moralphilosophie, weil sie auf eben diesem Gesichtspunkte p2c_498.022
stehen geblieben ist, das radicale Böse behauptet, und den p2c_498.023
Kontrast zwischen der Heiligkeit Gottes und der menschlichen p2c_498.024
Verkehrtheit oder Schwäche nicht aufzuheben vermag. p2c_498.025
Denn sobald der Mensch den Schein der Selbstbestimmung p2c_498.026
zu erlangen sucht, und sich als ein von der Natur getrenntes p2c_498.027
Wesen betrachtet, erklärt er sich auch fähig der Jmputation, p2c_498.028
und dieser Jmputation nach, wiewohl sie im eigentlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0022" n="498"/><lb n="p2c_498.001"/>
nun sich selbst überlassen, wagte mit menschlicher Klugheit <lb n="p2c_498.002"/>
seine Thierheit zu lenken und eigenmächtige Eingriffe in das <lb n="p2c_498.003"/>
Meisterwerk der Natur zu thun, blieb ihr ewiges unglückliches <lb n="p2c_498.004"/>
Spielwerk, und vermochte sich nicht einmal mit dem <lb n="p2c_498.005"/>
Verstande von seiner Selbstbestimmung zu überzeugen. Er <lb n="p2c_498.006"/>
stand also getrennt von dem <hi rendition="#g">moralischen</hi> Gesetzgeber, <lb n="p2c_498.007"/>
dessen Heiligkeit ihn unaufhörlich verdammte, den er umsonst <lb n="p2c_498.008"/>
durch Opfer zu versühnen suchte. Er war sich des <hi rendition="#g">Guten</hi> <lb n="p2c_498.009"/>
als einer ihm vorgeschriebenen Richtschnur bewußt, aber er <lb n="p2c_498.010"/>
fand in dem Guten keine Freude, und die Freuden des Jnstinkts <lb n="p2c_498.011"/>
waren für ihn nicht schuldlos mehr. Er ward ein <lb n="p2c_498.012"/>
Knecht des furchtbaren Gottes in der höhern Sphäre, in <lb n="p2c_498.013"/>
welche er durch das Schicksal hinaufgerissen war, in welcher <lb n="p2c_498.014"/>
er sich nicht behaupten konnte. Der stolze Trieb nach <lb n="p2c_498.015"/>
Selbstbestimmung, verbunden mit Sinnlichkeit, zeigt also <lb n="p2c_498.016"/>
den Menschen, der sich der höhern Moralität bewußt wird, <lb n="p2c_498.017"/>
in der Erscheinungswelt als ein unvollkommnes mit der Erbsünde <lb n="p2c_498.018"/>
behaftetes Wesen. Der heilige Gott steht dagegen <lb n="p2c_498.019"/>
von ihm getrennt, mit einer unerbittlichen Strenge, der <lb n="p2c_498.020"/>
nicht genug gethan werden kann, wie denn auch die neuere <lb n="p2c_498.021"/>
Moralphilosophie, weil sie auf eben diesem Gesichtspunkte <lb n="p2c_498.022"/>
stehen geblieben ist, das radicale Böse behauptet, und den <lb n="p2c_498.023"/>
Kontrast zwischen der Heiligkeit Gottes und der menschlichen <lb n="p2c_498.024"/>
Verkehrtheit oder Schwäche nicht aufzuheben vermag. <lb n="p2c_498.025"/>
Denn sobald der Mensch den Schein der Selbstbestimmung <lb n="p2c_498.026"/>
zu erlangen sucht, und sich als ein von der Natur getrenntes <lb n="p2c_498.027"/>
Wesen betrachtet, erklärt er sich auch fähig der Jmputation,     <lb n="p2c_498.028"/>
und dieser Jmputation nach, wiewohl sie im eigentlichen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[498/0022] p2c_498.001 nun sich selbst überlassen, wagte mit menschlicher Klugheit p2c_498.002 seine Thierheit zu lenken und eigenmächtige Eingriffe in das p2c_498.003 Meisterwerk der Natur zu thun, blieb ihr ewiges unglückliches p2c_498.004 Spielwerk, und vermochte sich nicht einmal mit dem p2c_498.005 Verstande von seiner Selbstbestimmung zu überzeugen. Er p2c_498.006 stand also getrennt von dem moralischen Gesetzgeber, p2c_498.007 dessen Heiligkeit ihn unaufhörlich verdammte, den er umsonst p2c_498.008 durch Opfer zu versühnen suchte. Er war sich des Guten p2c_498.009 als einer ihm vorgeschriebenen Richtschnur bewußt, aber er p2c_498.010 fand in dem Guten keine Freude, und die Freuden des Jnstinkts p2c_498.011 waren für ihn nicht schuldlos mehr. Er ward ein p2c_498.012 Knecht des furchtbaren Gottes in der höhern Sphäre, in p2c_498.013 welche er durch das Schicksal hinaufgerissen war, in welcher p2c_498.014 er sich nicht behaupten konnte. Der stolze Trieb nach p2c_498.015 Selbstbestimmung, verbunden mit Sinnlichkeit, zeigt also p2c_498.016 den Menschen, der sich der höhern Moralität bewußt wird, p2c_498.017 in der Erscheinungswelt als ein unvollkommnes mit der Erbsünde p2c_498.018 behaftetes Wesen. Der heilige Gott steht dagegen p2c_498.019 von ihm getrennt, mit einer unerbittlichen Strenge, der p2c_498.020 nicht genug gethan werden kann, wie denn auch die neuere p2c_498.021 Moralphilosophie, weil sie auf eben diesem Gesichtspunkte p2c_498.022 stehen geblieben ist, das radicale Böse behauptet, und den p2c_498.023 Kontrast zwischen der Heiligkeit Gottes und der menschlichen p2c_498.024 Verkehrtheit oder Schwäche nicht aufzuheben vermag. p2c_498.025 Denn sobald der Mensch den Schein der Selbstbestimmung p2c_498.026 zu erlangen sucht, und sich als ein von der Natur getrenntes p2c_498.027 Wesen betrachtet, erklärt er sich auch fähig der Jmputation, p2c_498.028 und dieser Jmputation nach, wiewohl sie im eigentlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/22
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/22>, abgerufen am 24.11.2024.