Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_686.001 p2c_686.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0210" n="686"/><lb n="p2c_686.001"/> des Menschen denkbar in Ansehung seiner Sitten: 1) <lb n="p2c_686.002"/> der Zustand der rohern Natur, 2) der Zustand der verderbten <lb n="p2c_686.003"/> Cultur, 3) der Zustand der Religion, die Cultur und <lb n="p2c_686.004"/> Natur durch den höhern Jnstinct der Liebe vereinigt. Die <lb n="p2c_686.005"/> Geschichte der Menschheit in den heiligen Büchern zeigt den <lb n="p2c_686.006"/> Menschen unter diesen drey Ansichten. Die profane Erfahrung <lb n="p2c_686.007"/> läßt den Menschen nur unter den zwey ersten erscheinen. <lb n="p2c_686.008"/> Daher haben auch die Dichter gewöhnlich nur die natürlichen <lb n="p2c_686.009"/> und die cultivirten Sitten des Menschen geschildert, und <lb n="p2c_686.010"/> man findet nur <hi rendition="#g">Jdyllen</hi> oder <hi rendition="#g">Satyren.</hi> Doch kann <lb n="p2c_686.011"/> sich auch der Dichter <hi rendition="#g">religiöse</hi> Sitten des Menschen denken, <lb n="p2c_686.012"/> wie in den ersten Zeiten des Christenthums. Man <lb n="p2c_686.013"/> sieht also, daß dies System der Poetik auch im Stande ist, <lb n="p2c_686.014"/> neue Unterarten der Dichtungskunst vorauszusagen, wie <lb n="p2c_686.015"/> wir anderswo behaupteten. Etwas ähnliches ahnte schon <lb n="p2c_686.016"/> der tiefe Blick Schillers, indem dieser große philosophische <lb n="p2c_686.017"/> Dichter eine <hi rendition="#g">Vernunftidylle</hi> postulirte. Der Ausdruck <lb n="p2c_686.018"/> ist freylich nicht recht gut gewählt. Denn <hi rendition="#g">Vernunft</hi> <lb n="p2c_686.019"/> wird gewöhnlich der Natur ganz entgegengesetzt. <lb n="p2c_686.020"/> Allein wenn die Vernunft zum <hi rendition="#g">Triebe</hi> wird, heißt sie <lb n="p2c_686.021"/> <hi rendition="#g">Religion,</hi> und es ist alsdann eine <hi rendition="#g">religiöse Jdylle</hi> <lb n="p2c_686.022"/> möglich. Das <hi rendition="#g">moralische beschreibende</hi> Gedicht <lb n="p2c_686.023"/> gehört zur <hi rendition="#g">niedern</hi> beschreibenden Poesie. Denn die Sitten <lb n="p2c_686.024"/> des Naturstandes erwecken die Empfindung des <hi rendition="#g">naiven,</hi> <lb n="p2c_686.025"/> die Sitten der Bürgerwelt erwecken den <hi rendition="#g">Spott</hi> der freyern <lb n="p2c_686.026"/> Geister, also das Gefühl des <hi rendition="#g">Satyrischen.</hi> Beydes sind <lb n="p2c_686.027"/> Empfindungen des niedern Schönen. Ueberdem ist das <lb n="p2c_686.028"/> <hi rendition="#g">menschliche</hi> Leben das hier beschrieben wird, für die Anschauung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [686/0210]
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des Menschen denkbar in Ansehung seiner Sitten: 1) p2c_686.002
der Zustand der rohern Natur, 2) der Zustand der verderbten p2c_686.003
Cultur, 3) der Zustand der Religion, die Cultur und p2c_686.004
Natur durch den höhern Jnstinct der Liebe vereinigt. Die p2c_686.005
Geschichte der Menschheit in den heiligen Büchern zeigt den p2c_686.006
Menschen unter diesen drey Ansichten. Die profane Erfahrung p2c_686.007
läßt den Menschen nur unter den zwey ersten erscheinen. p2c_686.008
Daher haben auch die Dichter gewöhnlich nur die natürlichen p2c_686.009
und die cultivirten Sitten des Menschen geschildert, und p2c_686.010
man findet nur Jdyllen oder Satyren. Doch kann p2c_686.011
sich auch der Dichter religiöse Sitten des Menschen denken, p2c_686.012
wie in den ersten Zeiten des Christenthums. Man p2c_686.013
sieht also, daß dies System der Poetik auch im Stande ist, p2c_686.014
neue Unterarten der Dichtungskunst vorauszusagen, wie p2c_686.015
wir anderswo behaupteten. Etwas ähnliches ahnte schon p2c_686.016
der tiefe Blick Schillers, indem dieser große philosophische p2c_686.017
Dichter eine Vernunftidylle postulirte. Der Ausdruck p2c_686.018
ist freylich nicht recht gut gewählt. Denn Vernunft p2c_686.019
wird gewöhnlich der Natur ganz entgegengesetzt. p2c_686.020
Allein wenn die Vernunft zum Triebe wird, heißt sie p2c_686.021
Religion, und es ist alsdann eine religiöse Jdylle p2c_686.022
möglich. Das moralische beschreibende Gedicht p2c_686.023
gehört zur niedern beschreibenden Poesie. Denn die Sitten p2c_686.024
des Naturstandes erwecken die Empfindung des naiven, p2c_686.025
die Sitten der Bürgerwelt erwecken den Spott der freyern p2c_686.026
Geister, also das Gefühl des Satyrischen. Beydes sind p2c_686.027
Empfindungen des niedern Schönen. Ueberdem ist das p2c_686.028
menschliche Leben das hier beschrieben wird, für die Anschauung
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