Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_598.001 p2c_598.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0122" n="598"/><lb n="p2c_598.001"/> und eben so durchaus böse Charaktere, die ohne allen Kampf <lb n="p2c_598.002"/> sich zum Guten oder Bösen bestimmen, giebt es vielleicht <lb n="p2c_598.003"/> gar nicht. Der Dichter muß also dergleichen nicht darstellen, <lb n="p2c_598.004"/> weil ihnen die Wahrscheinlichkeit fehlt. Sie haben <lb n="p2c_598.005"/> auch keine <hi rendition="#g">Lebendigkeit,</hi> weil sie nicht durch Leidenschaften <lb n="p2c_598.006"/> und Neigungen angetrieben werden. Sie erscheinen <lb n="p2c_598.007"/> als bloße Maschienen des Dichters, um die Begebenheit <lb n="p2c_598.008"/> herbeyzuführen. Sie sind Gedankenwesen, Abstracta. <lb n="p2c_598.009"/> Jeder Charakter muß eine <hi rendition="#g">Jndividualität</hi> haben. <lb n="p2c_598.010"/> Menschen, wie Jago, die gern hetzen, und boshaft intriguiren, <lb n="p2c_598.011"/> giebt es. Lady Makbeth, das Weib, die aus ihrer <lb n="p2c_598.012"/> Sphäre tritt, ist begreislich. Miltons Satan hat Charakter <lb n="p2c_598.013"/> und Leidenschaft. Aber diese Charaktere stehn vielleicht <lb n="p2c_598.014"/> an der Gräuze. Klopstocks Satan ist schon mehr <lb n="p2c_598.015"/> Gedankending, der Begriff des Bösen. Daher muß sich <lb n="p2c_598.016"/> auch der Dichter vor blos <hi rendition="#g">allegorischen</hi> Personen hüten, <lb n="p2c_598.017"/> welche nicht zugleich <hi rendition="#g">mythologisch</hi> und historisch individuell <lb n="p2c_598.018"/> sind, wie die alten Götter. Wenn Voltaire glaubt, <lb n="p2c_598.019"/> das Wunderbare des Heldengedichts für aufgeklärte Nazionen <lb n="p2c_598.020"/> durch <hi rendition="#g">allegorische</hi> Personen genießbar zu machen, <lb n="p2c_598.021"/> so irrt er. Die <hi rendition="#g">Zwietracht</hi> u. s. w. sind wenigstens <lb n="p2c_598.022"/> keine Personen für eine <hi rendition="#g">Handlung.</hi> ─ Ferner muß <lb n="p2c_598.023"/> sich der historische Dichter in Acht nehmen, daß er die Charaktere <lb n="p2c_598.024"/> nicht etwa blos <hi rendition="#g">beschreibt.</hi> Homer läßt seine <lb n="p2c_598.025"/> Personen selbst handeln. Die Charakteristik der Jünger im <lb n="p2c_598.026"/> Messias ist, als <hi rendition="#g">lyrische</hi> Schilderung unübertrefflich <lb n="p2c_598.027"/> schön. Aber die Handlung läßt sie kalt. Silius Jtalicus <lb n="p2c_598.028"/> schildert den Charakter des Hannibal, wie ein Geschichtschreiber </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [598/0122]
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und eben so durchaus böse Charaktere, die ohne allen Kampf p2c_598.002
sich zum Guten oder Bösen bestimmen, giebt es vielleicht p2c_598.003
gar nicht. Der Dichter muß also dergleichen nicht darstellen, p2c_598.004
weil ihnen die Wahrscheinlichkeit fehlt. Sie haben p2c_598.005
auch keine Lebendigkeit, weil sie nicht durch Leidenschaften p2c_598.006
und Neigungen angetrieben werden. Sie erscheinen p2c_598.007
als bloße Maschienen des Dichters, um die Begebenheit p2c_598.008
herbeyzuführen. Sie sind Gedankenwesen, Abstracta. p2c_598.009
Jeder Charakter muß eine Jndividualität haben. p2c_598.010
Menschen, wie Jago, die gern hetzen, und boshaft intriguiren, p2c_598.011
giebt es. Lady Makbeth, das Weib, die aus ihrer p2c_598.012
Sphäre tritt, ist begreislich. Miltons Satan hat Charakter p2c_598.013
und Leidenschaft. Aber diese Charaktere stehn vielleicht p2c_598.014
an der Gräuze. Klopstocks Satan ist schon mehr p2c_598.015
Gedankending, der Begriff des Bösen. Daher muß sich p2c_598.016
auch der Dichter vor blos allegorischen Personen hüten, p2c_598.017
welche nicht zugleich mythologisch und historisch individuell p2c_598.018
sind, wie die alten Götter. Wenn Voltaire glaubt, p2c_598.019
das Wunderbare des Heldengedichts für aufgeklärte Nazionen p2c_598.020
durch allegorische Personen genießbar zu machen, p2c_598.021
so irrt er. Die Zwietracht u. s. w. sind wenigstens p2c_598.022
keine Personen für eine Handlung. ─ Ferner muß p2c_598.023
sich der historische Dichter in Acht nehmen, daß er die Charaktere p2c_598.024
nicht etwa blos beschreibt. Homer läßt seine p2c_598.025
Personen selbst handeln. Die Charakteristik der Jünger im p2c_598.026
Messias ist, als lyrische Schilderung unübertrefflich p2c_598.027
schön. Aber die Handlung läßt sie kalt. Silius Jtalicus p2c_598.028
schildert den Charakter des Hannibal, wie ein Geschichtschreiber
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