Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_596.001
ist eine plötzliche Veränderung der Glücksumstände, die p2c_596.002
überrascht und anders ausfällt, wie man erwartete, z. B. p2c_596.003
wenn der Bote, welcher ankommt, den Oedipus mit seiner p2c_596.004
Nachricht alle Furcht zu benehmen, ihn gerade einen unglücklichen p2c_596.005
Aufschluß giebt. Die Erkennung, z. B. p2c_596.006
wenn Odysseus aus seiner Narbe erkannt, und dadurch der p2c_596.007
Handlung eine plötzliche Wendung gegeben wird. Die p2c_596.008
Erkennung ist auch bey fröhlichen Begebenheiten oft als p2c_596.009
sogenannter Theatercoup sehr gewöhnlich, und trägt durch p2c_596.010
ihr Ueberraschendes zur Lebhaftigkeit der Handlung bey. p2c_596.011
Jm Oedipus Tyrannus trifft Erkennung und Peripetie zusammen, p2c_596.012
und giebt der lusis einen fürchterlichen Effekt. p2c_596.013
3) Die Handlung muß ferner eine begreifliche Totalität darstellen, p2c_596.014
sie muß Einheit, Zusammenhang der Theile, Vollkommenheit p2c_596.015
zeigen, wenn man bey der Auflösung auf sie p2c_596.016
zurückblickt. Dieses begreifliche Zusammenstimmen der p2c_596.017
Theile ist das, was man gewöhnlich die Wahrscheinlichkeit p2c_596.018
oder ideale Wahrheit der poetischen Handlung p2c_596.019
nennt. Aristoteles in seiner Poetik c. 10. 23. unterscheidet p2c_596.020
hierdurch die historische Poesie von der Geschichte. Sie ist p2c_596.021
gleichsam das Jdeal, welches der Geschichte vorgehalten p2c_596.022
wird. Die Geschichte soll streben so begreiflich zu werden, p2c_596.023
wie das historische Gedicht, und insofern hat Quinctilian p2c_596.024
recht, wenn er die Geschichte ein von metrischem Zwang p2c_596.025
freyes Gedicht nennt. Es wird also eine Haupteinheit p2c_596.026
verlangt, die nicht blos in der Zeit sey, ein Synchronismus p2c_596.027
der Begebenheiten, sondern in und durch die Jdee p2c_596.028
des Hauptzwecks. Alle Nebenbegebenheiten und Zwischenvorfälle

p2c_596.001
ist eine plötzliche Veränderung der Glücksumstände, die p2c_596.002
überrascht und anders ausfällt, wie man erwartete, z. B. p2c_596.003
wenn der Bote, welcher ankommt, den Oedipus mit seiner p2c_596.004
Nachricht alle Furcht zu benehmen, ihn gerade einen unglücklichen p2c_596.005
Aufschluß giebt. Die Erkennung, z. B. p2c_596.006
wenn Odysseus aus seiner Narbe erkannt, und dadurch der p2c_596.007
Handlung eine plötzliche Wendung gegeben wird. Die p2c_596.008
Erkennung ist auch bey fröhlichen Begebenheiten oft als p2c_596.009
sogenannter Theatercoup sehr gewöhnlich, und trägt durch p2c_596.010
ihr Ueberraschendes zur Lebhaftigkeit der Handlung bey. p2c_596.011
Jm Oedipus Tyrannus trifft Erkennung und Peripetie zusammen, p2c_596.012
und giebt der λυσις einen fürchterlichen Effekt. p2c_596.013
3) Die Handlung muß ferner eine begreifliche Totalität darstellen, p2c_596.014
sie muß Einheit, Zusammenhang der Theile, Vollkommenheit p2c_596.015
zeigen, wenn man bey der Auflösung auf sie p2c_596.016
zurückblickt. Dieses begreifliche Zusammenstimmen der p2c_596.017
Theile ist das, was man gewöhnlich die Wahrscheinlichkeit p2c_596.018
oder ideale Wahrheit der poetischen Handlung p2c_596.019
nennt. Aristoteles in seiner Poetik c. 10. 23. unterscheidet p2c_596.020
hierdurch die historische Poesie von der Geschichte. Sie ist p2c_596.021
gleichsam das Jdeal, welches der Geschichte vorgehalten p2c_596.022
wird. Die Geschichte soll streben so begreiflich zu werden, p2c_596.023
wie das historische Gedicht, und insofern hat Quinctilian p2c_596.024
recht, wenn er die Geschichte ein von metrischem Zwang p2c_596.025
freyes Gedicht nennt. Es wird also eine Haupteinheit p2c_596.026
verlangt, die nicht blos in der Zeit sey, ein Synchronismus p2c_596.027
der Begebenheiten, sondern in und durch die Jdee p2c_596.028
des Hauptzwecks. Alle Nebenbegebenheiten und Zwischenvorfälle

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0120" n="596"/><lb n="p2c_596.001"/>
ist eine plötzliche Veränderung der Glücksumstände, die <lb n="p2c_596.002"/>
überrascht und anders ausfällt, wie man erwartete, z. B. <lb n="p2c_596.003"/>
wenn der Bote, welcher ankommt, den Oedipus mit seiner <lb n="p2c_596.004"/>
Nachricht alle Furcht zu benehmen, ihn gerade einen unglücklichen <lb n="p2c_596.005"/>
Aufschluß giebt. Die <hi rendition="#g">Erkennung,</hi> z. B. <lb n="p2c_596.006"/>
wenn Odysseus aus seiner Narbe erkannt, und dadurch der <lb n="p2c_596.007"/>
Handlung eine plötzliche Wendung gegeben wird. Die <lb n="p2c_596.008"/> <hi rendition="#g">Erkennung</hi> ist auch bey fröhlichen Begebenheiten oft als <lb n="p2c_596.009"/>
sogenannter Theatercoup sehr gewöhnlich, und trägt durch <lb n="p2c_596.010"/>
ihr Ueberraschendes zur Lebhaftigkeit der Handlung bey. <lb n="p2c_596.011"/>
Jm Oedipus Tyrannus trifft Erkennung und Peripetie zusammen, <lb n="p2c_596.012"/>
und giebt der <foreign xml:lang="grc">&#x03BB;&#x03C5;&#x03C3;&#x03B9;&#x03C2;</foreign> einen fürchterlichen Effekt. <lb n="p2c_596.013"/>
3) Die Handlung muß ferner eine begreifliche Totalität darstellen, <lb n="p2c_596.014"/>
sie muß Einheit, Zusammenhang der Theile, Vollkommenheit <lb n="p2c_596.015"/>
zeigen, wenn man bey der Auflösung auf sie <lb n="p2c_596.016"/>
zurückblickt. Dieses begreifliche Zusammenstimmen der <lb n="p2c_596.017"/>
Theile ist das, was man gewöhnlich die <hi rendition="#g">Wahrscheinlichkeit</hi> <lb n="p2c_596.018"/>
oder <hi rendition="#g">ideale</hi> Wahrheit der poetischen Handlung <lb n="p2c_596.019"/>
nennt. Aristoteles in seiner Poetik <hi rendition="#aq">c</hi>. 10. 23. unterscheidet <lb n="p2c_596.020"/>
hierdurch die historische Poesie von der Geschichte. Sie ist <lb n="p2c_596.021"/>
gleichsam das <hi rendition="#g">Jdeal,</hi> welches der Geschichte vorgehalten <lb n="p2c_596.022"/>
wird. Die Geschichte soll streben so begreiflich zu werden, <lb n="p2c_596.023"/>
wie das historische Gedicht, und insofern hat Quinctilian <lb n="p2c_596.024"/>
recht, wenn er die Geschichte ein von metrischem Zwang <lb n="p2c_596.025"/>
freyes Gedicht nennt. Es wird also eine <hi rendition="#g">Haupteinheit</hi> <lb n="p2c_596.026"/>
verlangt, die nicht blos in der Zeit sey, ein Synchronismus <lb n="p2c_596.027"/>
der Begebenheiten, sondern <hi rendition="#g">in</hi> und durch die <hi rendition="#g">Jdee</hi> <lb n="p2c_596.028"/>
des Hauptzwecks. Alle Nebenbegebenheiten und Zwischenvorfälle
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[596/0120] p2c_596.001 ist eine plötzliche Veränderung der Glücksumstände, die p2c_596.002 überrascht und anders ausfällt, wie man erwartete, z. B. p2c_596.003 wenn der Bote, welcher ankommt, den Oedipus mit seiner p2c_596.004 Nachricht alle Furcht zu benehmen, ihn gerade einen unglücklichen p2c_596.005 Aufschluß giebt. Die Erkennung, z. B. p2c_596.006 wenn Odysseus aus seiner Narbe erkannt, und dadurch der p2c_596.007 Handlung eine plötzliche Wendung gegeben wird. Die p2c_596.008 Erkennung ist auch bey fröhlichen Begebenheiten oft als p2c_596.009 sogenannter Theatercoup sehr gewöhnlich, und trägt durch p2c_596.010 ihr Ueberraschendes zur Lebhaftigkeit der Handlung bey. p2c_596.011 Jm Oedipus Tyrannus trifft Erkennung und Peripetie zusammen, p2c_596.012 und giebt der λυσις einen fürchterlichen Effekt. p2c_596.013 3) Die Handlung muß ferner eine begreifliche Totalität darstellen, p2c_596.014 sie muß Einheit, Zusammenhang der Theile, Vollkommenheit p2c_596.015 zeigen, wenn man bey der Auflösung auf sie p2c_596.016 zurückblickt. Dieses begreifliche Zusammenstimmen der p2c_596.017 Theile ist das, was man gewöhnlich die Wahrscheinlichkeit p2c_596.018 oder ideale Wahrheit der poetischen Handlung p2c_596.019 nennt. Aristoteles in seiner Poetik c. 10. 23. unterscheidet p2c_596.020 hierdurch die historische Poesie von der Geschichte. Sie ist p2c_596.021 gleichsam das Jdeal, welches der Geschichte vorgehalten p2c_596.022 wird. Die Geschichte soll streben so begreiflich zu werden, p2c_596.023 wie das historische Gedicht, und insofern hat Quinctilian p2c_596.024 recht, wenn er die Geschichte ein von metrischem Zwang p2c_596.025 freyes Gedicht nennt. Es wird also eine Haupteinheit p2c_596.026 verlangt, die nicht blos in der Zeit sey, ein Synchronismus p2c_596.027 der Begebenheiten, sondern in und durch die Jdee p2c_596.028 des Hauptzwecks. Alle Nebenbegebenheiten und Zwischenvorfälle

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/120
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/120>, abgerufen am 23.11.2024.