Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_021.001
bekannte zukünftige Erscheinungen glücklich vorher zu errathen, p1c_021.002
so wie Newton die Verbrennlichkeit des Diamants, p1c_021.003
Kopernikus die Phasen der Venus errieth, in so fern glaubt p1c_021.004
der Mensch von der Natur nicht zu lernen, sondern maßt p1c_021.005
sich es an, die Gesetze des Weltlaufs zu wissen. Die p1c_021.006
Theorieen werden daher oft Wissenschaften genannt, p1c_021.007
und wenn sie lehren, wie man selbst mit menschlicher Kraft p1c_021.008
in der Erscheinungswelt handeln könne, wissenschaftliche p1c_021.009
Künste,
im objektiven Sinne des Worts, z. B. p1c_021.010
Arzneykunst, Staatskunst u. s. w. Allein das Wort p1c_021.011
Wissenschaft ist in diesem Sinne auf die Erfahrungswelt p1c_021.012
angewandt, ein leerer Schall. Unsre Astronomieen, Physiken, p1c_021.013
medizinischen und psychologischen Systeme werden p1c_021.014
immer und ewig Theorieen bleiben, wo nicht alles p1c_021.015
eintrifft und die Kunst oft zur Stümperey wird. Mit einem p1c_021.016
Worte, zwischen Erfahrungs-Theorieen und p1c_021.017
eigentlicher Wissenschaft liegt eine unausfüllbare Kluft. p1c_021.018
Die Theorie nimmt zwar ihre Ordnungsbegriffe und p1c_021.019
Grundsätze als Hypothesen aus den Wissenschaften, p1c_021.020
sie ist aber deswegen keinesweges angewandte Wissenschaft, p1c_021.021
sondern nur Anwendung der Wissenschaft zu p1c_021.022
nennen. Die Wissenschäftler gehen also zu weit, p1c_021.023
wenn sie die Theorieen in ihre Formen zwängen, das Experimentiren p1c_021.024
vernichten, und alles apriorisiren wollen. Allein p1c_021.025
auch die Theoretiker gehn zu weit, wenn sie das Daseyn p1c_021.026
der reinen Wissenschaft läugnen, ihre Theorieen p1c_021.027
so verwirrt und unlogisch vortragen, wie es noch immer p1c_021.028
geschieht, und sich um das Thun und Lassen im eigentlichen

p1c_021.001
bekannte zukünftige Erscheinungen glücklich vorher zu errathen, p1c_021.002
so wie Newton die Verbrennlichkeit des Diamants, p1c_021.003
Kopernikus die Phasen der Venus errieth, in so fern glaubt p1c_021.004
der Mensch von der Natur nicht zu lernen, sondern maßt p1c_021.005
sich es an, die Gesetze des Weltlaufs zu wissen. Die p1c_021.006
Theorieen werden daher oft Wissenschaften genannt, p1c_021.007
und wenn sie lehren, wie man selbst mit menschlicher Kraft p1c_021.008
in der Erscheinungswelt handeln könne, wissenschaftliche p1c_021.009
Künste,
im objektiven Sinne des Worts, z. B. p1c_021.010
Arzneykunst, Staatskunst u. s. w. Allein das Wort p1c_021.011
Wissenschaft ist in diesem Sinne auf die Erfahrungswelt p1c_021.012
angewandt, ein leerer Schall. Unsre Astronomieen, Physiken, p1c_021.013
medizinischen und psychologischen Systeme werden p1c_021.014
immer und ewig Theorieen bleiben, wo nicht alles p1c_021.015
eintrifft und die Kunst oft zur Stümperey wird. Mit einem p1c_021.016
Worte, zwischen Erfahrungs-Theorieen und p1c_021.017
eigentlicher Wissenschaft liegt eine unausfüllbare Kluft. p1c_021.018
Die Theorie nimmt zwar ihre Ordnungsbegriffe und p1c_021.019
Grundsätze als Hypothesen aus den Wissenschaften, p1c_021.020
sie ist aber deswegen keinesweges angewandte Wissenschaft, p1c_021.021
sondern nur Anwendung der Wissenschaft zu p1c_021.022
nennen. Die Wissenschäftler gehen also zu weit, p1c_021.023
wenn sie die Theorieen in ihre Formen zwängen, das Experimentiren p1c_021.024
vernichten, und alles apriorisiren wollen. Allein p1c_021.025
auch die Theoretiker gehn zu weit, wenn sie das Daseyn p1c_021.026
der reinen Wissenschaft läugnen, ihre Theorieen p1c_021.027
so verwirrt und unlogisch vortragen, wie es noch immer p1c_021.028
geschieht, und sich um das Thun und Lassen im eigentlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0079" n="21"/><lb n="p1c_021.001"/>
bekannte zukünftige Erscheinungen glücklich vorher zu errathen, <lb n="p1c_021.002"/>
so wie Newton die Verbrennlichkeit des Diamants, <lb n="p1c_021.003"/>
Kopernikus die Phasen der Venus errieth, in so fern glaubt <lb n="p1c_021.004"/>
der Mensch von der Natur nicht zu <hi rendition="#g">lernen,</hi> sondern maßt <lb n="p1c_021.005"/>
sich es an, die Gesetze des Weltlaufs zu <hi rendition="#g">wissen.</hi> Die <lb n="p1c_021.006"/> <hi rendition="#g">Theorieen</hi> werden daher oft <hi rendition="#g">Wissenschaften</hi> genannt, <lb n="p1c_021.007"/>
und wenn sie lehren, wie man selbst mit menschlicher Kraft <lb n="p1c_021.008"/>
in der Erscheinungswelt handeln könne, <hi rendition="#g">wissenschaftliche <lb n="p1c_021.009"/>
Künste,</hi> im objektiven Sinne des Worts, z. B. <lb n="p1c_021.010"/>
Arzneykunst, Staatskunst u. s. w. Allein das Wort <lb n="p1c_021.011"/>
Wissenschaft ist in diesem Sinne auf die Erfahrungswelt <lb n="p1c_021.012"/>
angewandt, ein leerer Schall. Unsre Astronomieen, Physiken, <lb n="p1c_021.013"/>
medizinischen und psychologischen Systeme werden <lb n="p1c_021.014"/>
immer und ewig <hi rendition="#g">Theorieen</hi> bleiben, wo nicht alles <lb n="p1c_021.015"/>
eintrifft und die Kunst oft zur Stümperey wird. Mit einem <lb n="p1c_021.016"/>
Worte, <hi rendition="#g">zwischen Erfahrungs-Theorieen</hi> und <lb n="p1c_021.017"/>
eigentlicher <hi rendition="#g">Wissenschaft</hi> liegt eine unausfüllbare Kluft. <lb n="p1c_021.018"/>
Die <hi rendition="#g">Theorie</hi> nimmt zwar ihre Ordnungsbegriffe und <lb n="p1c_021.019"/>
Grundsätze als <hi rendition="#g">Hypothesen</hi> aus den <hi rendition="#g">Wissenschaften,</hi> <lb n="p1c_021.020"/>
sie ist aber deswegen keinesweges <hi rendition="#g">angewandte Wissenschaft,</hi> <lb n="p1c_021.021"/>
sondern nur <hi rendition="#g">Anwendung</hi> der Wissenschaft zu <lb n="p1c_021.022"/>
nennen. Die <hi rendition="#g">Wissenschäftler</hi> gehen also zu weit, <lb n="p1c_021.023"/>
wenn sie die Theorieen in ihre Formen zwängen, das Experimentiren <lb n="p1c_021.024"/>
vernichten, und alles apriorisiren wollen. Allein <lb n="p1c_021.025"/>
auch die <hi rendition="#g">Theoretiker</hi> gehn zu weit, wenn sie das Daseyn <lb n="p1c_021.026"/>
der <hi rendition="#g">reinen Wissenschaft</hi> läugnen, ihre Theorieen <lb n="p1c_021.027"/>
so verwirrt und unlogisch vortragen, wie es noch immer <lb n="p1c_021.028"/>
geschieht, und sich um das Thun und Lassen im eigentlichen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0079] p1c_021.001 bekannte zukünftige Erscheinungen glücklich vorher zu errathen, p1c_021.002 so wie Newton die Verbrennlichkeit des Diamants, p1c_021.003 Kopernikus die Phasen der Venus errieth, in so fern glaubt p1c_021.004 der Mensch von der Natur nicht zu lernen, sondern maßt p1c_021.005 sich es an, die Gesetze des Weltlaufs zu wissen. Die p1c_021.006 Theorieen werden daher oft Wissenschaften genannt, p1c_021.007 und wenn sie lehren, wie man selbst mit menschlicher Kraft p1c_021.008 in der Erscheinungswelt handeln könne, wissenschaftliche p1c_021.009 Künste, im objektiven Sinne des Worts, z. B. p1c_021.010 Arzneykunst, Staatskunst u. s. w. Allein das Wort p1c_021.011 Wissenschaft ist in diesem Sinne auf die Erfahrungswelt p1c_021.012 angewandt, ein leerer Schall. Unsre Astronomieen, Physiken, p1c_021.013 medizinischen und psychologischen Systeme werden p1c_021.014 immer und ewig Theorieen bleiben, wo nicht alles p1c_021.015 eintrifft und die Kunst oft zur Stümperey wird. Mit einem p1c_021.016 Worte, zwischen Erfahrungs-Theorieen und p1c_021.017 eigentlicher Wissenschaft liegt eine unausfüllbare Kluft. p1c_021.018 Die Theorie nimmt zwar ihre Ordnungsbegriffe und p1c_021.019 Grundsätze als Hypothesen aus den Wissenschaften, p1c_021.020 sie ist aber deswegen keinesweges angewandte Wissenschaft, p1c_021.021 sondern nur Anwendung der Wissenschaft zu p1c_021.022 nennen. Die Wissenschäftler gehen also zu weit, p1c_021.023 wenn sie die Theorieen in ihre Formen zwängen, das Experimentiren p1c_021.024 vernichten, und alles apriorisiren wollen. Allein p1c_021.025 auch die Theoretiker gehn zu weit, wenn sie das Daseyn p1c_021.026 der reinen Wissenschaft läugnen, ihre Theorieen p1c_021.027 so verwirrt und unlogisch vortragen, wie es noch immer p1c_021.028 geschieht, und sich um das Thun und Lassen im eigentlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/79
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/79>, abgerufen am 09.11.2024.