Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_016.001
heftigsten, und erregt, ob sie gleich selbst weniger schöpferisch p1c_016.002
ist, in dem Zuhörer das Bewußtseyn der Schöpfungskraft p1c_016.003
am meisten. Denn sie stellt ihm in der Tonreihe, die p1c_016.004
sich rythmisch entwickelt, das Schema seiner eignen in der p1c_016.005
Zeit sich auflösenden Seele dar, die nun zu einem freyen p1c_016.006
Gedankenspiele aufgefordert wird. Die übrigen Künste, in p1c_016.007
sofern sie den Gedanken im Bewußtseyn lichter entstehen p1c_016.008
lassen, bedingen mehr die Vorstellkraft ihres Publikums, p1c_016.009
und wirken also weniger auf den ganzen Menschen, wenn p1c_016.010
gleich mehr und nothwendiger auf den Geist. Uebrigens p1c_016.011
sind die zusammengesetztesten Künste, z. B. wenn sie p1c_016.012
sich unter der Aufsicht der Poesie zu einem Schauspiele vereinigen, p1c_016.013
natürlich die wirksamsten, so wie ein Gemälde p1c_016.014
wirksamer ist, als die Zeichnung. Der höhere Mensch p1c_016.015
empfindet aber mehr bey der Zeichnung, und man hört eine p1c_016.016
Sonate von Clementi lieber auf dem Clavier, als auf dem p1c_016.017
Fortepiano.

p1c_016.018
Anmerk. 3. Man könnte einwenden, durch obige p1c_016.019
Definition sey die Beredsamkeit nicht hinlänglich ausgeschlossen. p1c_016.020
Allein die Beredsamkeit ist gar keine freye p1c_016.021
Kunst, so wenig als die Baukunst. Jeder, der seine p1c_016.022
Gedanken durch die Sprache mittheilt, muß sich natürlicherweise p1c_016.023
deutlich, logisch und grammatisch richtig und den p1c_016.024
Gegenständen angemessen ausdrücken, wenn er belehren will. p1c_016.025
Dies kann man die Wohlredenheit nennen, von der p1c_016.026
uns Xenophon das beste Muster giebt. Sie sagt nicht mehr, p1c_016.027
als zur Sache gehört, damit man die Sache einsehen lerne.

p1c_016.001
heftigsten, und erregt, ob sie gleich selbst weniger schöpferisch p1c_016.002
ist, in dem Zuhörer das Bewußtseyn der Schöpfungskraft p1c_016.003
am meisten. Denn sie stellt ihm in der Tonreihe, die p1c_016.004
sich rythmisch entwickelt, das Schema seiner eignen in der p1c_016.005
Zeit sich auflösenden Seele dar, die nun zu einem freyen p1c_016.006
Gedankenspiele aufgefordert wird. Die übrigen Künste, in p1c_016.007
sofern sie den Gedanken im Bewußtseyn lichter entstehen p1c_016.008
lassen, bedingen mehr die Vorstellkraft ihres Publikums, p1c_016.009
und wirken also weniger auf den ganzen Menschen, wenn p1c_016.010
gleich mehr und nothwendiger auf den Geist. Uebrigens p1c_016.011
sind die zusammengesetztesten Künste, z. B. wenn sie p1c_016.012
sich unter der Aufsicht der Poesie zu einem Schauspiele vereinigen, p1c_016.013
natürlich die wirksamsten, so wie ein Gemälde p1c_016.014
wirksamer ist, als die Zeichnung. Der höhere Mensch p1c_016.015
empfindet aber mehr bey der Zeichnung, und man hört eine p1c_016.016
Sonate von Clementi lieber auf dem Clavier, als auf dem p1c_016.017
Fortepiano.

p1c_016.018
Anmerk. 3. Man könnte einwenden, durch obige p1c_016.019
Definition sey die Beredsamkeit nicht hinlänglich ausgeschlossen. p1c_016.020
Allein die Beredsamkeit ist gar keine freye p1c_016.021
Kunst, so wenig als die Baukunst. Jeder, der seine p1c_016.022
Gedanken durch die Sprache mittheilt, muß sich natürlicherweise p1c_016.023
deutlich, logisch und grammatisch richtig und den p1c_016.024
Gegenständen angemessen ausdrücken, wenn er belehren will. p1c_016.025
Dies kann man die Wohlredenheit nennen, von der p1c_016.026
uns Xenophon das beste Muster giebt. Sie sagt nicht mehr, p1c_016.027
als zur Sache gehört, damit man die Sache einsehen lerne.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="16"/><lb n="p1c_016.001"/>
heftigsten, und erregt, ob sie gleich selbst weniger schöpferisch <lb n="p1c_016.002"/>
ist, in dem Zuhörer das Bewußtseyn der Schöpfungskraft <lb n="p1c_016.003"/>
am meisten. Denn sie stellt ihm in der Tonreihe, die <lb n="p1c_016.004"/>
sich rythmisch entwickelt, das Schema seiner eignen in der <lb n="p1c_016.005"/>
Zeit sich auflösenden Seele dar, die nun zu einem freyen <lb n="p1c_016.006"/>
Gedankenspiele aufgefordert wird. Die übrigen Künste, in <lb n="p1c_016.007"/>
sofern sie den Gedanken im Bewußtseyn lichter entstehen <lb n="p1c_016.008"/>
lassen, bedingen mehr die Vorstellkraft ihres Publikums, <lb n="p1c_016.009"/>
und wirken also weniger auf den ganzen Menschen, wenn <lb n="p1c_016.010"/>
gleich mehr und nothwendiger auf den Geist. Uebrigens <lb n="p1c_016.011"/>
sind die <hi rendition="#g">zusammengesetztesten</hi> Künste, z. B. wenn sie <lb n="p1c_016.012"/>
sich unter der Aufsicht der Poesie zu einem Schauspiele vereinigen, <lb n="p1c_016.013"/>
natürlich die wirksamsten, so wie ein Gemälde <lb n="p1c_016.014"/>
wirksamer ist, als die Zeichnung. Der höhere Mensch <lb n="p1c_016.015"/>
empfindet aber mehr bey der Zeichnung, und man hört eine <lb n="p1c_016.016"/>
Sonate von Clementi lieber auf dem Clavier, als auf dem <lb n="p1c_016.017"/>
Fortepiano.</p>
          <p><lb n="p1c_016.018"/><hi rendition="#g">Anmerk.</hi> 3. Man könnte einwenden, durch obige <lb n="p1c_016.019"/>
Definition sey die <hi rendition="#g">Beredsamkeit</hi> nicht hinlänglich ausgeschlossen. <lb n="p1c_016.020"/>
Allein die <hi rendition="#g">Beredsamkeit</hi> ist gar keine freye <lb n="p1c_016.021"/>
Kunst, so wenig als die <hi rendition="#g">Baukunst.</hi> Jeder, der seine <lb n="p1c_016.022"/>
Gedanken durch die Sprache mittheilt, muß sich natürlicherweise <lb n="p1c_016.023"/>
deutlich, logisch und grammatisch richtig und den <lb n="p1c_016.024"/>
Gegenständen angemessen ausdrücken, wenn er belehren will. <lb n="p1c_016.025"/>
Dies kann man die <hi rendition="#g">Wohlredenheit</hi> nennen, von der <lb n="p1c_016.026"/>
uns Xenophon das beste Muster giebt. Sie sagt nicht mehr, <lb n="p1c_016.027"/>
als zur Sache gehört, damit man die Sache einsehen lerne.
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0074] p1c_016.001 heftigsten, und erregt, ob sie gleich selbst weniger schöpferisch p1c_016.002 ist, in dem Zuhörer das Bewußtseyn der Schöpfungskraft p1c_016.003 am meisten. Denn sie stellt ihm in der Tonreihe, die p1c_016.004 sich rythmisch entwickelt, das Schema seiner eignen in der p1c_016.005 Zeit sich auflösenden Seele dar, die nun zu einem freyen p1c_016.006 Gedankenspiele aufgefordert wird. Die übrigen Künste, in p1c_016.007 sofern sie den Gedanken im Bewußtseyn lichter entstehen p1c_016.008 lassen, bedingen mehr die Vorstellkraft ihres Publikums, p1c_016.009 und wirken also weniger auf den ganzen Menschen, wenn p1c_016.010 gleich mehr und nothwendiger auf den Geist. Uebrigens p1c_016.011 sind die zusammengesetztesten Künste, z. B. wenn sie p1c_016.012 sich unter der Aufsicht der Poesie zu einem Schauspiele vereinigen, p1c_016.013 natürlich die wirksamsten, so wie ein Gemälde p1c_016.014 wirksamer ist, als die Zeichnung. Der höhere Mensch p1c_016.015 empfindet aber mehr bey der Zeichnung, und man hört eine p1c_016.016 Sonate von Clementi lieber auf dem Clavier, als auf dem p1c_016.017 Fortepiano. p1c_016.018 Anmerk. 3. Man könnte einwenden, durch obige p1c_016.019 Definition sey die Beredsamkeit nicht hinlänglich ausgeschlossen. p1c_016.020 Allein die Beredsamkeit ist gar keine freye p1c_016.021 Kunst, so wenig als die Baukunst. Jeder, der seine p1c_016.022 Gedanken durch die Sprache mittheilt, muß sich natürlicherweise p1c_016.023 deutlich, logisch und grammatisch richtig und den p1c_016.024 Gegenständen angemessen ausdrücken, wenn er belehren will. p1c_016.025 Dies kann man die Wohlredenheit nennen, von der p1c_016.026 uns Xenophon das beste Muster giebt. Sie sagt nicht mehr, p1c_016.027 als zur Sache gehört, damit man die Sache einsehen lerne.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/74
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/74>, abgerufen am 26.11.2024.