p1c_014.001 Gefühle ihrer Würde, im Bewußtseyn das göttlichep1c_014.002 empfangen, geboren zu haben. Der Mahler spricht mit p1c_014.003 uns durch natürliche Zeichen, bey deren Gestaltung ihm p1c_014.004 die Natur nothwendige Regeln vorschreibt. Gleichwohl p1c_014.005 bezieht er sich dabey immer noch auf eine höhere Kunst, p1c_014.006 welche uns durch willkührliche von den Menschen freyp1c_014.007 erfundene Zeichen sagen kann, das ist Christus, das ist p1c_014.008 Maria! Diese Kunst ist die Poesie. Sie bedient sich der p1c_014.009 articulirten Töne, und der Schriftzeichen, der p1c_014.010 von den Menschen willkührlich bestimmten Sprache, wodurch p1c_014.011 sich dieselben Gedanken und Empfindungen mittheilen. p1c_014.012 Sie erhebt sich mehr als andere schöne Künste über die p1c_014.013 bloße Nachahmung der Natur, sie stellt nicht die Schöpfung, p1c_014.014 sondern die schaffende Kraft, nicht das Gedachte, sondern p1c_014.015 den Gedanken dar, und die geistige Bestimmung des Gegenstandes, p1c_014.016 sie wirkt auf das Bewußtseyn, nicht auf die p1c_014.017 Augen, sie ist also frey von allen Regeln der sichtbaren p1c_014.018 Welt, und sie kann, sobald sie sich nicht als Schauspielkunst, p1c_014.019 mit den bildenden Künsten verbindet, der Phantasie p1c_014.020 Gegenstände vorhalten, die nach Lessings Gränzbestimmung p1c_014.021 kein Mahler mahlen dürfte, einen hundertarmigen Briareus p1c_014.022 u. s. w. Da die Poesie nicht unmittelbar zu den Sinnen, p1c_014.023 sondern zur Einbildungskraft selbst spricht, und ein p1c_014.024 abwesender Gegenstand oft mehr Eindruck auf unsere Vorstellungsart p1c_014.025 macht, als ein nachgebildeter, den die Sinne p1c_014.026 begreifen können, so ist in so fern die Poesie wirksamer, als p1c_014.027 jede andere Kunst.
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/72>, abgerufen am 09.11.2024.
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