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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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einen Begeisterten durch die Götter, der sich von seiner Kunst p1c_436.007
keine Rechenschaft geben könne. Allein der platonische Sokrates p1c_436.008
ist in diesem Dialog, wie überhaupt sehr oft, etwas p1c_436.009
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ein schönes Gedicht hervorbringen könne. Ohne Hoheit p1c_436.012
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die vielen Schwächen in den Charakteren der Dichter, p1c_436.015
daß die Musen sich den eigentlichen Ruhm des göttlichen p1c_436.016
Produkts vorbehalten. Aber es ist ein großer Unterschied p1c_436.017
zwischen Schwächen und Niedrigkeit. (dia tou phaulotatou p1c_436.018
poietou to kalliston melos esen.) Was insbesondre den p1c_436.019
Deklamator betrifft, so muß er freylich die Genialität des p1c_436.020
Dichters theilen, und den zweyten Grad der Begeisterung, p1c_436.021
eine besondere Empfänglichkeit für das Schöne haben. So p1c_436.022
wie man durch Regeln keinen Dichter macht, wird man auch p1c_436.023
keinen vorzüglichen Deklamator durch Kunst bilden. Klopstock p1c_436.024
erhebt in seiner Ode: Teone, die Deklamation zu einer p1c_436.025
Göttin. Die kleinste Kunst des Gesangs, sagt er, ist Teonen p1c_436.026
nicht verborgen. Sie bildet das Lied dem Ohre. Jhrer p1c_436.027
Stimme Wendungen sind Melodieen, verwebt mit des Herzens

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ein schönes Gedicht hervorbringen könne. Ohne Hoheit p1c_436.012
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Produkts vorbehalten. Aber es ist ein großer Unterschied p1c_436.017
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ποιητου το καλλιϛον μελος ᾐσεν.) Was insbesondre den p1c_436.019
Deklamator betrifft, so muß er freylich die Genialität des p1c_436.020
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/494>, abgerufen am 01.09.2024.