Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_275.001
widerfprechend seyn, wie zu den Zeiten der Pegnitzschäfer p1c_275.002
und Zesianer in Deutschland. - Lustschlürfendes p1c_275.003
Tönen,
die Nachtigall eine Baumsirene u. s. w. - p1c_275.004
Neuerlich findet man in den hexametrischen Gedichten der p1c_275.005
Deutschen oft Zusammensetzungen bis zur Ermüdung, besonders p1c_275.006
in den Epitheten. Selten findet man Synthesen, p1c_275.007
die leicht sind. Der Synthesis neuer Worte steht als grammatische p1c_275.008
Figur die Tmesis entgegen, wenn gewöhnliche p1c_275.009
zusammengesetzte Sylben von den Dichtern getrennt werden. p1c_275.010
Auch hierdurch erscheint die Sprache der Dichter als p1c_275.011
neu, schöpferisch, werdend, anschaulich und lebhaft. p1c_275.012
Quae me cunque vocant terrae
statt quaecunque. p1c_275.013
Der Dichter muß seine Sprache kennen, wenn p1c_275.014
er so mit ihr verfahren will. Von der Art ist die Stelle des p1c_275.015
Homer, welche Longin (Tmema i) deswegen lobt Il. XV. p1c_275.016
vs
. 624. bey der Beschreibung eines Sturms: tromeousi p1c_275.017
de te phrena nautai deidiotes; tutthon gar up' ek thanatoio p1c_275.018
pherontai. Longin findet in dieser gewaltsamen Stellung p1c_275.019
unverbundener Vorwörter einen mahlerischen Ausdruck p1c_275.020
von der Heftigkeit des Sturms. Tollius hat deshalb den p1c_275.021
Vers des Homer in der lateinischen Uebersetzung so nachgeahmt: p1c_275.022
Eripiuntur enim vix desub faucibus orci. p1c_275.023
Allein das ist eben der Charakter solcher figurarum dictionis, p1c_275.024
daß sie in der Uebersetzung gewöhnlich verschwinden. p1c_275.025
Der griechische Dichter hat einen großen Vortheil, indem p1c_275.026
er besonders die Vorwörter von den Zeitwörtern wieder trennen p1c_275.027
darf. krateron d' epi muthon etelle. Allerdings p1c_275.028
lassen sich dergleichen Trennungen auch im Deutschen machen

p1c_275.001
widerfprechend seyn, wie zu den Zeiten der Pegnitzschäfer p1c_275.002
und Zesianer in Deutschland. ─ Lustschlürfendes p1c_275.003
Tönen,
die Nachtigall eine Baumsirene u. s. w. ─ p1c_275.004
Neuerlich findet man in den hexametrischen Gedichten der p1c_275.005
Deutschen oft Zusammensetzungen bis zur Ermüdung, besonders p1c_275.006
in den Epitheten. Selten findet man Synthesen, p1c_275.007
die leicht sind. Der Synthesis neuer Worte steht als grammatische p1c_275.008
Figur die Tmesis entgegen, wenn gewöhnliche p1c_275.009
zusammengesetzte Sylben von den Dichtern getrennt werden. p1c_275.010
Auch hierdurch erscheint die Sprache der Dichter als p1c_275.011
neu, schöpferisch, werdend, anschaulich und lebhaft. p1c_275.012
Quae me cunque vocant terrae
statt quaecunque. p1c_275.013
Der Dichter muß seine Sprache kennen, wenn p1c_275.014
er so mit ihr verfahren will. Von der Art ist die Stelle des p1c_275.015
Homer, welche Longin (Tmema ι) deswegen lobt Il. XV. p1c_275.016
vs
. 624. bey der Beschreibung eines Sturms: τρομεουσι p1c_275.017
δε τε φρενα ναυται δειδιοτες· τυτθον γαρ ὑπ' ἐκ θανατοιο p1c_275.018
φερονται. Longin findet in dieser gewaltsamen Stellung p1c_275.019
unverbundener Vorwörter einen mahlerischen Ausdruck p1c_275.020
von der Heftigkeit des Sturms. Tollius hat deshalb den p1c_275.021
Vers des Homer in der lateinischen Uebersetzung so nachgeahmt: p1c_275.022
Eripiuntur enim vix desub faucibus orci. p1c_275.023
Allein das ist eben der Charakter solcher figurarum dictionis, p1c_275.024
daß sie in der Uebersetzung gewöhnlich verschwinden. p1c_275.025
Der griechische Dichter hat einen großen Vortheil, indem p1c_275.026
er besonders die Vorwörter von den Zeitwörtern wieder trennen p1c_275.027
darf. κρατερον δ' ἐπι μυθον ἐτελλε. Allerdings p1c_275.028
lassen sich dergleichen Trennungen auch im Deutschen machen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0333" n="275"/><lb n="p1c_275.001"/>
widerfprechend seyn, wie zu den Zeiten der Pegnitzschäfer <lb n="p1c_275.002"/>
und Zesianer in Deutschland. &#x2500; <hi rendition="#g">Lustschlürfendes <lb n="p1c_275.003"/>
Tönen,</hi> die Nachtigall eine <hi rendition="#g">Baumsirene</hi> u. s. w. &#x2500; <lb n="p1c_275.004"/>
Neuerlich findet man in den hexametrischen Gedichten der <lb n="p1c_275.005"/>
Deutschen oft Zusammensetzungen bis zur <hi rendition="#g">Ermüdung,</hi> besonders <lb n="p1c_275.006"/>
in den Epitheten. Selten findet man Synthesen, <lb n="p1c_275.007"/>
die leicht sind. Der <hi rendition="#g">Synthesis</hi> neuer Worte steht als grammatische <lb n="p1c_275.008"/>
Figur die <hi rendition="#g">Tmesis</hi> entgegen, wenn gewöhnliche <lb n="p1c_275.009"/>
zusammengesetzte Sylben von den Dichtern getrennt werden. <lb n="p1c_275.010"/>
Auch hierdurch erscheint die <hi rendition="#g">Sprache</hi> der <hi rendition="#g">Dichter</hi> als <lb n="p1c_275.011"/> <hi rendition="#g">neu, schöpferisch, werdend, anschaulich</hi> und <hi rendition="#g">lebhaft. <lb n="p1c_275.012"/> <hi rendition="#aq">Quae</hi> me <hi rendition="#g">cunque</hi> vocant terrae</hi> statt <hi rendition="#aq">quaecunque</hi>. <lb n="p1c_275.013"/>
Der Dichter muß seine Sprache kennen, wenn <lb n="p1c_275.014"/>
er so mit ihr verfahren will. Von der Art ist die Stelle des <lb n="p1c_275.015"/>
Homer, welche Longin (<hi rendition="#aq">Tmema <foreign xml:lang="grc">&#x03B9;</foreign></hi>) deswegen lobt <hi rendition="#aq">Il. XV. <lb n="p1c_275.016"/>
vs</hi>. 624. bey der Beschreibung eines Sturms: <foreign xml:lang="grc">&#x03C4;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C3;&#x03B9;</foreign> <lb n="p1c_275.017"/>
<foreign xml:lang="grc">&#x03B4;&#x03B5; &#x03C4;&#x03B5; &#x03C6;&#x03C1;&#x03B5;&#x03BD;&#x03B1; &#x03BD;&#x03B1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03B4;&#x03B5;&#x03B9;&#x03B4;&#x03B9;&#x03BF;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2;&#x0387;</foreign> <foreign xml:lang="grc">&#x03C4;&#x03C5;&#x03C4;&#x03B8;&#x03BF;&#x03BD; &#x03B3;&#x03B1;&#x03C1; &#x1F51;&#x03C0;' &#x1F10;&#x03BA; &#x03B8;&#x03B1;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BF;</foreign> <lb n="p1c_275.018"/>
<foreign xml:lang="grc">&#x03C6;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9;</foreign>. Longin findet in dieser gewaltsamen Stellung <lb n="p1c_275.019"/>
unverbundener Vorwörter einen mahlerischen Ausdruck <lb n="p1c_275.020"/>
von der Heftigkeit des Sturms. Tollius hat deshalb den <lb n="p1c_275.021"/>
Vers des Homer in der lateinischen Uebersetzung so nachgeahmt: <lb n="p1c_275.022"/> <hi rendition="#aq">Eripiuntur enim vix desub faucibus orci</hi>. <lb n="p1c_275.023"/>
Allein das ist eben der Charakter solcher <hi rendition="#aq">figurarum dictionis</hi>, <lb n="p1c_275.024"/>
daß sie in der Uebersetzung gewöhnlich verschwinden. <lb n="p1c_275.025"/>
Der griechische Dichter hat einen großen Vortheil, indem <lb n="p1c_275.026"/>
er besonders die Vorwörter von den Zeitwörtern wieder trennen <lb n="p1c_275.027"/>
darf. <foreign xml:lang="grc">&#x03BA;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BD; &#x03B4;' &#x1F10;&#x03C0;&#x03B9; &#x03BC;&#x03C5;&#x03B8;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F10;&#x03C4;&#x03B5;&#x03BB;&#x03BB;&#x03B5;</foreign>. Allerdings     <lb n="p1c_275.028"/>
lassen sich dergleichen Trennungen auch im Deutschen machen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[275/0333] p1c_275.001 widerfprechend seyn, wie zu den Zeiten der Pegnitzschäfer p1c_275.002 und Zesianer in Deutschland. ─ Lustschlürfendes p1c_275.003 Tönen, die Nachtigall eine Baumsirene u. s. w. ─ p1c_275.004 Neuerlich findet man in den hexametrischen Gedichten der p1c_275.005 Deutschen oft Zusammensetzungen bis zur Ermüdung, besonders p1c_275.006 in den Epitheten. Selten findet man Synthesen, p1c_275.007 die leicht sind. Der Synthesis neuer Worte steht als grammatische p1c_275.008 Figur die Tmesis entgegen, wenn gewöhnliche p1c_275.009 zusammengesetzte Sylben von den Dichtern getrennt werden. p1c_275.010 Auch hierdurch erscheint die Sprache der Dichter als p1c_275.011 neu, schöpferisch, werdend, anschaulich und lebhaft. p1c_275.012 Quae me cunque vocant terrae statt quaecunque. p1c_275.013 Der Dichter muß seine Sprache kennen, wenn p1c_275.014 er so mit ihr verfahren will. Von der Art ist die Stelle des p1c_275.015 Homer, welche Longin (Tmema ι) deswegen lobt Il. XV. p1c_275.016 vs. 624. bey der Beschreibung eines Sturms: τρομεουσι p1c_275.017 δε τε φρενα ναυται δειδιοτες· τυτθον γαρ ὑπ' ἐκ θανατοιο p1c_275.018 φερονται. Longin findet in dieser gewaltsamen Stellung p1c_275.019 unverbundener Vorwörter einen mahlerischen Ausdruck p1c_275.020 von der Heftigkeit des Sturms. Tollius hat deshalb den p1c_275.021 Vers des Homer in der lateinischen Uebersetzung so nachgeahmt: p1c_275.022 Eripiuntur enim vix desub faucibus orci. p1c_275.023 Allein das ist eben der Charakter solcher figurarum dictionis, p1c_275.024 daß sie in der Uebersetzung gewöhnlich verschwinden. p1c_275.025 Der griechische Dichter hat einen großen Vortheil, indem p1c_275.026 er besonders die Vorwörter von den Zeitwörtern wieder trennen p1c_275.027 darf. κρατερον δ' ἐπι μυθον ἐτελλε. Allerdings p1c_275.028 lassen sich dergleichen Trennungen auch im Deutschen machen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/333
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/333>, abgerufen am 27.07.2024.