p1c_085.001 liegt groß und weithin im Staube ausgestreckt, zerreissend p1c_085.002 mit seinen eignen lieben Händen das Haupthaar. Priamus p1c_085.003 wälzt sich im Koth vor seinen Freunden und bittet sie, ihn p1c_085.004 hinaus zu lassen vor die Stadt zu dem Mörder seines Sohnes. p1c_085.005 - Und Hecuba wirft weit hinweg den Schleyer, p1c_085.006 schlägt sich die nackte Brust und reißt sich mit Schluchzen p1c_085.007 das Haar aus. Zuweilen wird die Schilderung des Elends bey p1c_085.008 den Griechen so wahr, daß sie an das Ekelhafte gränzt, p1c_085.009 den Sinnen widersteht und die Einbildungskraft tödtet. Hierher p1c_085.010 gehören einige Stellen in den Trachinerinnen, Philoktet p1c_085.011 und Oedipus Tyrannus, wo die richtige Gränze kaum gehalten p1c_085.012 ist. Hierher gehört ferner die beynahe scheußlichep1c_085.013 schon von Longin verdammte Schilderung im Hesiodus p1c_085.014 Scut. Hercul. 250 seq. (wenn Hesiodus der Verfasser ist), p1c_085.015 weil sie zu sehr als kaltes Gemälde da steht und durch kein p1c_085.016 inneres Seeleninteresse gehalten wird, besonders die akhlus p1c_085.017 (es bedeute das Jammerbild, was es wolle) makroi d'onukhes p1c_085.018 kheiressin upesan, tes ek men rinon muxai reon k. t. p1c_085.019 l. Wahrscheinlich sind dies alles Abstraktionen eines spätern p1c_085.020 Dichters aus dem Homer. Manches wäre auch vielleicht p1c_085.021 von dem Bilde des Ugolino im Dante zu sagen, der p1c_085.022 seinem Feinde das Gehirn anfrißt. Allein wenn man bedenkt, p1c_085.023 daß die Menschennatur durch die Geschichte eines p1c_085.024 Mannes so tief empört und erschüttert wird, der seinen Feind p1c_085.025 mit seinen unschuldigen Kindern den Hungertod sterben ließ, p1c_085.026 so kann die aus ihren Gränzen gerissene Einbildungskraft p1c_085.027 wohl auch ein solches Bild überwinden. Auch ist Dante p1c_085.028 nur ein erzählender Dichter, und bringt dies nicht so unmittelbar
p1c_085.001 liegt groß und weithin im Staube ausgestreckt, zerreissend p1c_085.002 mit seinen eignen lieben Händen das Haupthaar. Priamus p1c_085.003 wälzt sich im Koth vor seinen Freunden und bittet sie, ihn p1c_085.004 hinaus zu lassen vor die Stadt zu dem Mörder seines Sohnes. p1c_085.005 ─ Und Hecuba wirft weit hinweg den Schleyer, p1c_085.006 schlägt sich die nackte Brust und reißt sich mit Schluchzen p1c_085.007 das Haar aus. Zuweilen wird die Schilderung des Elends bey p1c_085.008 den Griechen so wahr, daß sie an das Ekelhafte gränzt, p1c_085.009 den Sinnen widersteht und die Einbildungskraft tödtet. Hierher p1c_085.010 gehören einige Stellen in den Trachinerinnen, Philoktet p1c_085.011 und Oedipus Tyrannus, wo die richtige Gränze kaum gehalten p1c_085.012 ist. Hierher gehört ferner die beynahe scheußlichep1c_085.013 schon von Longin verdammte Schilderung im Hesiodus p1c_085.014 Scut. Hercul. 250 seq. (wenn Hesiodus der Verfasser ist), p1c_085.015 weil sie zu sehr als kaltes Gemälde da steht und durch kein p1c_085.016 inneres Seeleninteresse gehalten wird, besonders die ἀχλυς p1c_085.017 (es bedeute das Jammerbild, was es wolle) μακροι δ'ὀνυχες p1c_085.018 χειρεσσιν ὑπησαν, της εκ μεν ρινων μυξαι ρεον κ. τ. p1c_085.019 λ. Wahrscheinlich sind dies alles Abstraktionen eines spätern p1c_085.020 Dichters aus dem Homer. Manches wäre auch vielleicht p1c_085.021 von dem Bilde des Ugolino im Dante zu sagen, der p1c_085.022 seinem Feinde das Gehirn anfrißt. Allein wenn man bedenkt, p1c_085.023 daß die Menschennatur durch die Geschichte eines p1c_085.024 Mannes so tief empört und erschüttert wird, der seinen Feind p1c_085.025 mit seinen unschuldigen Kindern den Hungertod sterben ließ, p1c_085.026 so kann die aus ihren Gränzen gerissene Einbildungskraft p1c_085.027 wohl auch ein solches Bild überwinden. Auch ist Dante p1c_085.028 nur ein erzählender Dichter, und bringt dies nicht so unmittelbar
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0143"n="85"/><lbn="p1c_085.001"/>
liegt groß und weithin im Staube ausgestreckt, zerreissend <lbn="p1c_085.002"/>
mit seinen eignen lieben Händen das Haupthaar. Priamus <lbn="p1c_085.003"/>
wälzt sich im Koth vor seinen Freunden und bittet sie, ihn <lbn="p1c_085.004"/>
hinaus zu lassen vor die Stadt zu dem Mörder seines Sohnes. <lbn="p1c_085.005"/>─ Und Hecuba wirft weit hinweg den Schleyer, <lbn="p1c_085.006"/>
schlägt sich die nackte Brust und reißt sich mit Schluchzen <lbn="p1c_085.007"/>
das Haar aus. Zuweilen wird die Schilderung des Elends bey <lbn="p1c_085.008"/>
den Griechen so wahr, daß sie an das <hirendition="#g">Ekelhafte</hi> gränzt, <lbn="p1c_085.009"/>
den Sinnen widersteht und die Einbildungskraft tödtet. Hierher <lbn="p1c_085.010"/>
gehören einige Stellen in den Trachinerinnen, Philoktet <lbn="p1c_085.011"/>
und Oedipus Tyrannus, wo die richtige Gränze kaum gehalten <lbn="p1c_085.012"/>
ist. Hierher gehört ferner die beynahe <hirendition="#g">scheußliche</hi><lbn="p1c_085.013"/>
schon von Longin verdammte Schilderung im <hirendition="#aq">Hesiodus <lbn="p1c_085.014"/>
Scut. Hercul. 250 seq</hi>. (wenn Hesiodus der Verfasser ist), <lbn="p1c_085.015"/>
weil sie zu sehr als kaltes Gemälde da steht und durch kein <lbn="p1c_085.016"/>
inneres Seeleninteresse gehalten wird, besonders die <foreignxml:lang="grc">ἀχλυς</foreign><lbn="p1c_085.017"/>
(es bedeute das Jammerbild, was es wolle) <foreignxml:lang="grc">μακροιδ</foreign>'<foreignxml:lang="grc">ὀνυχες</foreign><lbn="p1c_085.018"/><foreignxml:lang="grc">χειρεσσινὑπησαν, τηςεκμενρινωνμυξαιρεονκ</foreign>. <foreignxml:lang="grc">τ</foreign>. <lbn="p1c_085.019"/><foreignxml:lang="grc">λ</foreign>. Wahrscheinlich sind dies alles Abstraktionen eines spätern <lbn="p1c_085.020"/>
Dichters aus dem Homer. Manches wäre auch vielleicht <lbn="p1c_085.021"/>
von dem Bilde des <hirendition="#aq">Ugolino</hi> im Dante zu sagen, der <lbn="p1c_085.022"/>
seinem Feinde das Gehirn anfrißt. Allein wenn man bedenkt, <lbn="p1c_085.023"/>
daß die Menschennatur durch die Geschichte eines <lbn="p1c_085.024"/>
Mannes so tief empört und erschüttert wird, der seinen Feind <lbn="p1c_085.025"/>
mit seinen unschuldigen Kindern den Hungertod sterben ließ, <lbn="p1c_085.026"/>
so kann die aus ihren Gränzen gerissene Einbildungskraft <lbn="p1c_085.027"/>
wohl auch ein solches Bild überwinden. Auch ist Dante <lbn="p1c_085.028"/>
nur ein erzählender Dichter, und bringt dies nicht so unmittelbar
</p></div></div></body></text></TEI>
[85/0143]
p1c_085.001
liegt groß und weithin im Staube ausgestreckt, zerreissend p1c_085.002
mit seinen eignen lieben Händen das Haupthaar. Priamus p1c_085.003
wälzt sich im Koth vor seinen Freunden und bittet sie, ihn p1c_085.004
hinaus zu lassen vor die Stadt zu dem Mörder seines Sohnes. p1c_085.005
─ Und Hecuba wirft weit hinweg den Schleyer, p1c_085.006
schlägt sich die nackte Brust und reißt sich mit Schluchzen p1c_085.007
das Haar aus. Zuweilen wird die Schilderung des Elends bey p1c_085.008
den Griechen so wahr, daß sie an das Ekelhafte gränzt, p1c_085.009
den Sinnen widersteht und die Einbildungskraft tödtet. Hierher p1c_085.010
gehören einige Stellen in den Trachinerinnen, Philoktet p1c_085.011
und Oedipus Tyrannus, wo die richtige Gränze kaum gehalten p1c_085.012
ist. Hierher gehört ferner die beynahe scheußliche p1c_085.013
schon von Longin verdammte Schilderung im Hesiodus p1c_085.014
Scut. Hercul. 250 seq. (wenn Hesiodus der Verfasser ist), p1c_085.015
weil sie zu sehr als kaltes Gemälde da steht und durch kein p1c_085.016
inneres Seeleninteresse gehalten wird, besonders die ἀχλυς p1c_085.017
(es bedeute das Jammerbild, was es wolle) μακροι δ'ὀνυχες p1c_085.018
χειρεσσιν ὑπησαν, της εκ μεν ρινων μυξαι ρεον κ. τ. p1c_085.019
λ. Wahrscheinlich sind dies alles Abstraktionen eines spätern p1c_085.020
Dichters aus dem Homer. Manches wäre auch vielleicht p1c_085.021
von dem Bilde des Ugolino im Dante zu sagen, der p1c_085.022
seinem Feinde das Gehirn anfrißt. Allein wenn man bedenkt, p1c_085.023
daß die Menschennatur durch die Geschichte eines p1c_085.024
Mannes so tief empört und erschüttert wird, der seinen Feind p1c_085.025
mit seinen unschuldigen Kindern den Hungertod sterben ließ, p1c_085.026
so kann die aus ihren Gränzen gerissene Einbildungskraft p1c_085.027
wohl auch ein solches Bild überwinden. Auch ist Dante p1c_085.028
nur ein erzählender Dichter, und bringt dies nicht so unmittelbar
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/143>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.