war auf den äußersten Punkt hinausgeschraubt, ein ver- zehrender Krieg beschäftigte ihn in Spanien, und das weite Rußland erlaubte, durch einen hundert Meilen langen Rück- zug, die Schwächung der feindlichen Streitkräfte aufs Äußerste zu treiben. Unter diesen großartigen Umständen war nicht allein auf einen starken Rückschlag zu rechnen, wenn das französische Unternehmen nicht gelang (und wie konnte es gelingen wenn der Kaiser Alexander nicht Friede machte oder seine Unterthanen nicht rebellirten?), sondern dieser Rückschlag konnte auch den Untergang des Gegners herbeiführen. Die höchste Weisheit hätte also keinen besseren Kriegsplan angeben können, als derjenige war, welchen die Russen unabsichtlich befolgten.
Daß man damals nicht so dachte und eine solche Ansicht für eine Extravaganz gehalten haben würde, ist für uns jetzt kein Grund sie nicht als die richtige aufzu- stellen. Sollen wir aus der Geschichte lernen, so müssen wir die Dinge, welche sich wirklich zugetragen haben, doch auch für die Folge als möglich ansehen, und daß die Reihe der großen Begebenheiten, die dem Marsch auf Moskau gefolgt sind, nicht eine Reihe von Zufällen ist, wird Jeder einräumen der auf ein Urtheil in solchen Dingen Anspruch machen kann. Wäre es den Russen möglich gewesen ihre Grenzen nothdürftig zu vertheidigen, so wäre zwar ein Sinken der französischen Macht und ein Umschwung des Glücks immer wahrscheinlich geblieben, aber er wäre gewiß nicht so gewaltsam und entscheidend eingetreten. Mit Opfern und Gefahren (die freilich für jedes andere Land viel größer, für die meisten unmöglich gewesen wären) hat Rußland diesen ungeheuren Vortheil gekauft.
So wird man immer einen großen positiven Erfolg nur durch positive, auf Entscheidung und nicht auf bloßes
Ab-
war auf den aͤußerſten Punkt hinausgeſchraubt, ein ver- zehrender Krieg beſchaͤftigte ihn in Spanien, und das weite Rußland erlaubte, durch einen hundert Meilen langen Ruͤck- zug, die Schwaͤchung der feindlichen Streitkraͤfte aufs Äußerſte zu treiben. Unter dieſen großartigen Umſtaͤnden war nicht allein auf einen ſtarken Ruͤckſchlag zu rechnen, wenn das franzoͤſiſche Unternehmen nicht gelang (und wie konnte es gelingen wenn der Kaiſer Alexander nicht Friede machte oder ſeine Unterthanen nicht rebellirten?), ſondern dieſer Ruͤckſchlag konnte auch den Untergang des Gegners herbeifuͤhren. Die hoͤchſte Weisheit haͤtte alſo keinen beſſeren Kriegsplan angeben koͤnnen, als derjenige war, welchen die Ruſſen unabſichtlich befolgten.
Daß man damals nicht ſo dachte und eine ſolche Anſicht fuͤr eine Extravaganz gehalten haben wuͤrde, iſt fuͤr uns jetzt kein Grund ſie nicht als die richtige aufzu- ſtellen. Sollen wir aus der Geſchichte lernen, ſo muͤſſen wir die Dinge, welche ſich wirklich zugetragen haben, doch auch fuͤr die Folge als moͤglich anſehen, und daß die Reihe der großen Begebenheiten, die dem Marſch auf Moskau gefolgt ſind, nicht eine Reihe von Zufaͤllen iſt, wird Jeder einraͤumen der auf ein Urtheil in ſolchen Dingen Anſpruch machen kann. Waͤre es den Ruſſen moͤglich geweſen ihre Grenzen nothduͤrftig zu vertheidigen, ſo waͤre zwar ein Sinken der franzoͤſiſchen Macht und ein Umſchwung des Gluͤcks immer wahrſcheinlich geblieben, aber er waͤre gewiß nicht ſo gewaltſam und entſcheidend eingetreten. Mit Opfern und Gefahren (die freilich fuͤr jedes andere Land viel groͤßer, fuͤr die meiſten unmoͤglich geweſen waͤren) hat Rußland dieſen ungeheuren Vortheil gekauft.
So wird man immer einen großen poſitiven Erfolg nur durch poſitive, auf Entſcheidung und nicht auf bloßes
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war auf den aͤußerſten Punkt hinausgeſchraubt, ein ver-
zehrender Krieg beſchaͤftigte ihn in Spanien, und das weite
Rußland erlaubte, durch einen hundert Meilen langen Ruͤck-
zug, die Schwaͤchung der feindlichen Streitkraͤfte aufs
Äußerſte zu treiben. Unter dieſen großartigen Umſtaͤnden
war nicht allein auf einen ſtarken Ruͤckſchlag zu rechnen,
wenn das franzoͤſiſche Unternehmen nicht gelang (und wie
konnte es gelingen wenn der Kaiſer Alexander nicht Friede
machte oder ſeine Unterthanen nicht rebellirten?), ſondern
dieſer Ruͤckſchlag konnte auch den Untergang des Gegners
herbeifuͤhren. Die hoͤchſte Weisheit haͤtte alſo keinen
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welchen die Ruſſen unabſichtlich befolgten.
Daß man damals nicht ſo dachte und eine ſolche
Anſicht fuͤr eine Extravaganz gehalten haben wuͤrde, iſt
fuͤr uns jetzt kein Grund ſie nicht als die richtige aufzu-
ſtellen. Sollen wir aus der Geſchichte lernen, ſo muͤſſen
wir die Dinge, welche ſich wirklich zugetragen haben, doch
auch fuͤr die Folge als moͤglich anſehen, und daß die Reihe
der großen Begebenheiten, die dem Marſch auf Moskau
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einraͤumen der auf ein Urtheil in ſolchen Dingen Anſpruch
machen kann. Waͤre es den Ruſſen moͤglich geweſen ihre
Grenzen nothduͤrftig zu vertheidigen, ſo waͤre zwar ein
Sinken der franzoͤſiſchen Macht und ein Umſchwung des
Gluͤcks immer wahrſcheinlich geblieben, aber er waͤre gewiß
nicht ſo gewaltſam und entſcheidend eingetreten. Mit
Opfern und Gefahren (die freilich fuͤr jedes andere Land
viel groͤßer, fuͤr die meiſten unmoͤglich geweſen waͤren) hat
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Clausewitz' "Vom Kriege" erschien zu Lebzeiten de… [mehr]
Clausewitz' "Vom Kriege" erschien zu Lebzeiten des Autors nicht als selbstständige Publikation. Es wurde posthum, zwischen 1832 und 1834, als Bde. 1-3 der "Hinterlassenen Werke des Generals Carl von Clausewitz" von dessen Witwe Marie von Clausewitz herausgegeben.
Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clausewitz_krieg03_1834/174>, abgerufen am 26.11.2024.
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