"Nicht das Mindeste!" entgegnete Tina. "Was könnte das auch sein? Überdies mag ich es nicht leiden, wenn Verlobte in Gesellschaften und an dritten Orten immer und ewig bei einan¬ der sitzen und stehn, mit niemand beinahe reden, als nur unter sich, und dergleichen Possen mehr. Ist es ein Wunder, wenn man jetzt von so vielen unglücklichen Ehen hört? Die Leute werden sich vor der Zeit zu lästig, sie vermögen das gegen¬ seitige Interesse nicht mehr zu erhalten, und nach und nach erschlafft das Band, das sie zusammen¬ halten sollte." "Du sprichst ja wie ein Buch!" sagte Heinrich, und schien mit Tinas Grundsätzen nicht ganz zufrieden. "Aber Du scheinst auch ein wenig zu übertreiben. Ich muß Dir gestehn, mir kam es beinahe vor, als habest Du Vetter Staunitz einen Theil Deiner Liebe entzogen. Sitzt Dir etwa der schöne Blauenstein im Kopfe? He?"
"Wie kommst Du auf diesen, lieber Oncle?" sagte Tina mit einem leisen Erröthen, und sah nach einer Schaar wilder Enten, welche sich über dem See ausbreitete. "Es bleibt uns Allen ein interessanter Mensch, dem wir sehr verpflichtet sind; was könnte mich auch sonst zu seiner Freun¬ din machen, als der Dienst, den er meines Va¬
„Nicht das Mindeſte!“ entgegnete Tina. „Was koͤnnte das auch ſein? Überdies mag ich es nicht leiden, wenn Verlobte in Geſellſchaften und an dritten Orten immer und ewig bei einan¬ der ſitzen und ſtehn, mit niemand beinahe reden, als nur unter ſich, und dergleichen Poſſen mehr. Iſt es ein Wunder, wenn man jetzt von ſo vielen ungluͤcklichen Ehen hoͤrt? Die Leute werden ſich vor der Zeit zu laͤſtig, ſie vermoͤgen das gegen¬ ſeitige Intereſſe nicht mehr zu erhalten, und nach und nach erſchlafft das Band, das ſie zuſammen¬ halten ſollte.“ „Du ſprichſt ja wie ein Buch!“ ſagte Heinrich, und ſchien mit Tinas Grundſaͤtzen nicht ganz zufrieden. „Aber Du ſcheinſt auch ein wenig zu uͤbertreiben. Ich muß Dir geſtehn, mir kam es beinahe vor, als habeſt Du Vetter Staunitz einen Theil Deiner Liebe entzogen. Sitzt Dir etwa der ſchoͤne Blauenſtein im Kopfe? He?“
„Wie kommſt Du auf dieſen, lieber Oncle?“ ſagte Tina mit einem leiſen Erroͤthen, und ſah nach einer Schaar wilder Enten, welche ſich uͤber dem See ausbreitete. „Es bleibt uns Allen ein intereſſanter Menſch, dem wir ſehr verpflichtet ſind; was koͤnnte mich auch ſonſt zu ſeiner Freun¬ din machen, als der Dienſt, den er meines Va¬
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„Nicht das Mindeſte!“ entgegnete Tina.
„Was koͤnnte das auch ſein? Überdies mag ich
es nicht leiden, wenn Verlobte in Geſellſchaften
und an dritten Orten immer und ewig bei einan¬
der ſitzen und ſtehn, mit niemand beinahe reden,
als nur unter ſich, und dergleichen Poſſen mehr.
Iſt es ein Wunder, wenn man jetzt von ſo vielen
ungluͤcklichen Ehen hoͤrt? Die Leute werden ſich
vor der Zeit zu laͤſtig, ſie vermoͤgen das gegen¬
ſeitige Intereſſe nicht mehr zu erhalten, und nach
und nach erſchlafft das Band, das ſie zuſammen¬
halten ſollte.“ „Du ſprichſt ja wie ein Buch!“
ſagte Heinrich, und ſchien mit Tinas Grundſaͤtzen
nicht ganz zufrieden. „Aber Du ſcheinſt auch ein
wenig zu uͤbertreiben. Ich muß Dir geſtehn,
mir kam es beinahe vor, als habeſt Du Vetter
Staunitz einen Theil Deiner Liebe entzogen.
Sitzt Dir etwa der ſchoͤne Blauenſtein im Kopfe?
He?“
„Wie kommſt Du auf dieſen, lieber Oncle?“
ſagte Tina mit einem leiſen Erroͤthen, und ſah
nach einer Schaar wilder Enten, welche ſich uͤber
dem See ausbreitete. „Es bleibt uns Allen ein
intereſſanter Menſch, dem wir ſehr verpflichtet
ſind; was koͤnnte mich auch ſonſt zu ſeiner Freun¬
din machen, als der Dienſt, den er meines Va¬
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Clauren, Heinrich: Liebe und Irrthum. Nordhausen, 1827, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clauren_liebe_1827/100>, abgerufen am 16.02.2025.
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