Man wird gestehen müssen, daß, da Sachen, die jedermann in die Augen fallen, schon gewiß sind, wenn wir gleich dieselben nur einmahl em- pfunden haben, solche noch gewisser seyn müssen, wenn wir sie zu vielen mahlen, ja, wie man sagt, täglich empfunden haben. Es ist ohnstrei- tig, daß niemand bey Sachen dieser Art einen Zweiffel bey sich verspüret, und daß aller Verdacht, als ob man etwa nicht recht gesehen oder gehöret, da- bey hinweg falle. Sollte es wohl möglich seyn, daß iemand sich einbildete, daß sein Hauß am Marckte, dem Rathhause gegen über stünde, da es doch an der Seite desselben stehet: oder daß zwey Thürme da stünden, wo nur einer vorhanden ist? oder daß er ein kleines Hauß vor ein Schloß anse- hen sollte? Man hat Ursache, auf alle Stücke Ach- tung zu geben, wo kein Betrug vorgehen kan, weil die Ernde der historischen Gewißheit überall lau- ter Möglichkeit des Betrugs abzusehen sich ein- bilden.
§. 15. Gewißheit historischer Schlußsätze.
Was man aus einer gehabten Empfindung schlüssen kan, dessen Würcklichkeit ist eben so ge- wiß, als die Empfindung selbsten. Z. E. Aus dem Jnhalte des Gefässes lässet sich das Gewichte des Wassers bestimmen, welches das Gefässe er- füllet. Wie nun überhaupt durch Schlüsse eigent- lich nur notiones partiales und Eigenschafften her-
aus
T 4
von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
§. 14. Und zu einen groͤſſern Grad erhoͤhet.
Man wird geſtehen muͤſſen, daß, da Sachen, die jedermann in die Augen fallen, ſchon gewiß ſind, wenn wir gleich dieſelben nur einmahl em- pfunden haben, ſolche noch gewiſſer ſeyn muͤſſen, wenn wir ſie zu vielen mahlen, ja, wie man ſagt, taͤglich empfunden haben. Es iſt ohnſtrei- tig, daß niemand bey Sachen dieſer Art einen Zweiffel bey ſich verſpuͤret, und daß aller Verdacht, als ob man etwa nicht recht geſehen oder gehoͤret, da- bey hinweg falle. Sollte es wohl moͤglich ſeyn, daß iemand ſich einbildete, daß ſein Hauß am Marckte, dem Rathhauſe gegen uͤber ſtuͤnde, da es doch an der Seite deſſelben ſtehet: oder daß zwey Thuͤrme da ſtuͤnden, wo nur einer vorhanden iſt? oder daß er ein kleines Hauß vor ein Schloß anſe- hen ſollte? Man hat Urſache, auf alle Stuͤcke Ach- tung zu geben, wo kein Betrug vorgehen kan, weil die Ernde der hiſtoriſchen Gewißheit uͤberall lau- ter Moͤglichkeit des Betrugs abzuſehen ſich ein- bilden.
§. 15. Gewißheit hiſtoriſcher Schlußſaͤtze.
Was man aus einer gehabten Empfindung ſchluͤſſen kan, deſſen Wuͤrcklichkeit iſt eben ſo ge- wiß, als die Empfindung ſelbſten. Z. E. Aus dem Jnhalte des Gefaͤſſes laͤſſet ſich das Gewichte des Waſſers beſtimmen, welches das Gefaͤſſe er- fuͤllet. Wie nun uͤberhaupt durch Schluͤſſe eigent- lich nur notiones partiales und Eigenſchafften her-
aus
T 4
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0331"n="295"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.</hi></fw><lb/><divn="2"><head>§. 14.<lb/>
Und zu einen groͤſſern Grad erhoͤhet.</head><lb/><p>Man wird geſtehen muͤſſen, daß, da Sachen,<lb/>
die jedermann in die Augen fallen, ſchon gewiß<lb/>ſind, wenn wir gleich dieſelben nur einmahl em-<lb/>
pfunden haben, ſolche noch gewiſſer ſeyn muͤſſen,<lb/>
wenn wir ſie zu <hirendition="#fr">vielen mahlen,</hi> ja, wie man<lb/>ſagt, <hirendition="#fr">taͤglich</hi> empfunden haben. Es iſt ohnſtrei-<lb/>
tig, daß niemand bey Sachen dieſer Art einen<lb/>
Zweiffel bey ſich verſpuͤret, und daß aller Verdacht,<lb/>
als ob man etwa nicht recht geſehen oder gehoͤret, da-<lb/>
bey hinweg falle. Sollte es wohl moͤglich ſeyn,<lb/>
daß iemand ſich einbildete, daß ſein Hauß am<lb/>
Marckte, dem Rathhauſe gegen uͤber ſtuͤnde, da<lb/>
es doch an der Seite deſſelben ſtehet: oder daß zwey<lb/>
Thuͤrme da ſtuͤnden, wo nur einer vorhanden iſt?<lb/>
oder daß er ein kleines Hauß vor ein <hirendition="#fr">Schloß</hi> anſe-<lb/>
hen ſollte? Man hat Urſache, auf alle Stuͤcke Ach-<lb/>
tung zu geben, wo kein Betrug vorgehen kan, weil<lb/>
die Ernde der hiſtoriſchen Gewißheit <hirendition="#fr">uͤberall</hi> lau-<lb/>
ter Moͤglichkeit des Betrugs abzuſehen ſich ein-<lb/>
bilden.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 15.<lb/>
Gewißheit hiſtoriſcher Schlußſaͤtze.</head><lb/><p>Was man aus einer gehabten Empfindung<lb/><hirendition="#fr">ſchluͤſſen</hi> kan, deſſen Wuͤrcklichkeit iſt eben ſo ge-<lb/>
wiß, als die Empfindung ſelbſten. Z. E. Aus<lb/>
dem Jnhalte des Gefaͤſſes laͤſſet ſich das Gewichte<lb/>
des Waſſers beſtimmen, welches das Gefaͤſſe er-<lb/>
fuͤllet. Wie nun uͤberhaupt durch Schluͤſſe eigent-<lb/>
lich nur <hirendition="#aq">notiones partiales</hi> und Eigenſchafften her-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">T 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">aus</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[295/0331]
von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
§. 14.
Und zu einen groͤſſern Grad erhoͤhet.
Man wird geſtehen muͤſſen, daß, da Sachen,
die jedermann in die Augen fallen, ſchon gewiß
ſind, wenn wir gleich dieſelben nur einmahl em-
pfunden haben, ſolche noch gewiſſer ſeyn muͤſſen,
wenn wir ſie zu vielen mahlen, ja, wie man
ſagt, taͤglich empfunden haben. Es iſt ohnſtrei-
tig, daß niemand bey Sachen dieſer Art einen
Zweiffel bey ſich verſpuͤret, und daß aller Verdacht,
als ob man etwa nicht recht geſehen oder gehoͤret, da-
bey hinweg falle. Sollte es wohl moͤglich ſeyn,
daß iemand ſich einbildete, daß ſein Hauß am
Marckte, dem Rathhauſe gegen uͤber ſtuͤnde, da
es doch an der Seite deſſelben ſtehet: oder daß zwey
Thuͤrme da ſtuͤnden, wo nur einer vorhanden iſt?
oder daß er ein kleines Hauß vor ein Schloß anſe-
hen ſollte? Man hat Urſache, auf alle Stuͤcke Ach-
tung zu geben, wo kein Betrug vorgehen kan, weil
die Ernde der hiſtoriſchen Gewißheit uͤberall lau-
ter Moͤglichkeit des Betrugs abzuſehen ſich ein-
bilden.
§. 15.
Gewißheit hiſtoriſcher Schlußſaͤtze.
Was man aus einer gehabten Empfindung
ſchluͤſſen kan, deſſen Wuͤrcklichkeit iſt eben ſo ge-
wiß, als die Empfindung ſelbſten. Z. E. Aus
dem Jnhalte des Gefaͤſſes laͤſſet ſich das Gewichte
des Waſſers beſtimmen, welches das Gefaͤſſe er-
fuͤllet. Wie nun uͤberhaupt durch Schluͤſſe eigent-
lich nur notiones partiales und Eigenſchafften her-
aus
T 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/331>, abgerufen am 13.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.